aus bma 10/97

von Klaus Herder

Sport ist eigentlich dann am schönsten, wenn er vorbei ist. Das Gefühl, sich aus den verschwitzten Klamotten herauszuschälen, das stundenlange Duschen, das kalte Bier zur Belohnung und am Ende einfach wohlig geschafft ins Bett zu fallen – nur wer sich vorher richtig quält, kann die anschließende Entspannungsphase in vollen Zügen genießen.So gesehen verleiden einem viele Motorräder den Genuß. Bequeme Sitzposition, kompletter Wind- und Wetterschutz, schaltfaul zu fahrende Motoren, Zweifinger-Bremsen – wer so entspannt ankommt wie er losgefahren ist, versäumt eine ganze Menge. Das meint jedenfalls Suzuki und beglückt die motorradfahrenden Sportler mit der GSX-R 600. Nun ist die 600er-Klasse ja keine Kategorie, in der es bisher an potenten Maschinen mangelte, doch so kompromißlos wie die Techniker aus Hamamatsu ging noch kein Hersteller das Thema Mittelklasse-Sportler an. Da man gerade dabei war, die GSX-R 750 zu aktualisieren, wurde die 600er kurzerhand mitentwickelt. So erstaunt es auch nicht weiter, daß die meisten Bauteile weitgehend identisch sind. Verkleidung, Rahmen, Motorgehäuse – alles baugleich. Der Kenner entdeckt die Unterschiede trotzdem auf den ersten Blick: Die kleine GSX-R führt das Vorderrad in einer konventionellen Telegabel (750er: Upside-down-Gabel) und die 320 mm-Doppelscheiben werden von Vier- statt Sechskolbensätteln in die Zange genommen. Daß die Alu-Hinterradschwinge der 600er einen Zentimeter kürzer als das 750er-Exemplar ist, fällt mit bloßem Auge nicht unbedingt auf, daß bei der 600er die oberen Schwingen-Verstrebungen fehlen, ist aber offensichtlich. Um die Fahrwerksunterschiede komplett zu machen, rollt die GSX-R 600 auf einem 180er-Hinterreifen, der auf einer 5,5 Zoll-Felge sitzt. Die 750er quält sich unnötigerweise mit einem zusätzlichen Zentimeter Reifenbreite.

 

Mit unnötig viel Gewicht muß sich keiner der beiden Supersportler abschleppen. Der Brückenrahmen aus Aluprofilen, die hohlgegossene untere Alu-Gabelbrücke und jede Menge hohlgebohrter Achsen und Schrauben drücken schon das Leergewicht der 750er auf bescheidene 204 Kilogramm. Die GSX-R 600 ist noch leichter, sie bringt sensationelle 199 Kilogramm auf die Waage.
Wie es drinnen aussieht, geht ebenfalls jeden etwas an: Der wassergekühlte Vierzylinder der 750er wurde in Hub und Bohrung zurückgenommen (65,5 x 44,5 statt 72 x 46 mm), und atmet bei der 600er durch kleinere Mikuni-Vergaser (36,5 statt 39 mm Durchmesser). Eine um 0,2 auf 12:1 erhöhte Verdichtung, die leicht geänderte Kupplung und ein etwas enger gestuftes Getriebe sind neben einem vergrößerten Ventilwinkel die wesentlichen Unterschiede. Der Grundaufbau des kompakten Motors – das heißt dreigeteiltes Kurbelgehäuse, Gehäusedeckel aus einer leichten Magnesiumlegierung und direkt im Aluzylinderblock sitzende, Nickel-Siliciumcarbid beschichtete Laufflächen – ist bei den GSX-R-Schwestern identisch.
Genug der Theorie, die Sportschau beginnt: Bereits die erste Sitzprobe macht unmißverständlich klar, daß Klapphelm tragende Gore-Tex-Fans völlig fehl am Platze sind. Die Lenkerstummel sind gefühlsmäßig auf Höhe der Bremssättel angebracht. Vielleicht aber auch nur unterhalb der oberen Gabelbrücke, jedenfalls ziemlich tief. Der 18 Liter-Tank ist breit und lang und der Sitzplatz nicht übertrieben üppig gepolstert. Die Fahrerfußrasten sitzen auf Höhe der Kniescheiben, und die Soziusrasten sind ein prima Haltegriff beim Rangieren. Zu mehr sollten sie nicht genutzt werden, die Praxistauglichkeit des Beifahrer-Hochsitzes strebt gegen Null. Muß ja auch nicht, oder fragen Porsche 911er-Besitzer danach, wieviel Kisten Bier in den Kofferraum passen? Eben.
Der Kaltstart klappt völlig problemlos, die Gänge lassen sich butterweich einlegen. Im Stadtverkehr muß allerdings nicht übermäßig oft im Sechsganggetriebe gerührt werden – der erste Gang reicht theoretisch bis 110 km/h. Wer innerorts dann vielleicht doch lieber im zweiten oder gar dritten Gang unterwegs ist, muß mit der Kupplung zaubern. Was etwas nervt, sind die metallischen Schläge beim Stop and Go-Trödeln. Die GSX-R möchte frei rennen, das macht sie ihrem in Angriffshaltung kauernden Piloten unmißverständlich klar. Um zu kontrollieren, ob man noch halbwegs im legalen Bereich unterwegs ist, müssen Fahrer über 1,80 Meter zweimal hinschauen. Die flache Verkleidungsscheibe vereitelt gekonnt den Blick auf die Instrumente, stört dafür aber nicht weiter beim Anvisieren der nächsten Kurvenkombination.
Gutes Augenmaß sollte ohnehin eine herausragende Eigenschaft des GSX-R-Fahrers sein. Der Supersportler beharrt nämlich stur auf der einmal eingeschlagenen Linie. Das mögen korrigierfreudige Anfänger als störend empfinden, dem charakterlich gefestigten Profi-Heizer kommt das stabile Fahrverhalten entgegen. Wer genau weiß, wo er lang will, kommt mit der GSX-R sauschnell ums Eck. Von der Gutmütigkeit einer CBR 600 ist die Suzuki jedenfalls meilenweit entfernt, sie verlangt nach einer starken Hand. Die nicht übermäßig ausgeprägte Handlichkeit der GSX-R mag ihre Ursache auch im viel zu breiten Hinterradschlappen haben. Merke: Wer breit ist, muß nicht zwangsläufig beweglich sein. Sportfahrer belastet das vermutlich weniger, beim zügigen Ums-Eck-Brechen spielt es da schon eher eine Rolle, daß die Räder ständigen Bodenkontakt halten und keine Unruhe ins Gebälk kommt. Dafür sorgen bei der GSX-R die ordentlich arbeitenden Federelemente. Die Mischung aus gerade-noch-komfortabel und Hauptsache-das-Ding-klebt-auf-der Straße ist geglückt. Die serienmäßigen Pirelli MTR 01/02 Cora-Gummis haben zudem einen brutal guten Grip.
Der Schaltfuß ist auf der Suzuki das neben der Gashand am häufigsten beanspruchte Körperteil. Nun sind 105 PS offen zwar nicht so ganz wenig, nur liegen die erst bei flotten 12.000 U/min. an und ihnen stehen drehmomentmäßig nur relativ bescheidene 66 Nm bei 10.000 U/min. zur Seite. Unter 9.000 U/min. spielt sich fast gar nichts ab, der ganz große Spaß kommt erst jenseits der 11.000er-Marke auf. Bei 13.100 U/min. setzt der Begrenzer dem fröhlichen Drehen ein Ende. Durchzugskraft ist nicht das Ding der GSX-R. Doch bleiben wir fair: Wir unterhalten uns über eine 600er, die ganz nebenbei knapp 250 km/h Spitze läuft und in unter vier Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 beschleunigt. Wer Durchzug will, der soll gefälligst eine dicke 1100er um die Ecken stemmen. Wer die Fahrleistungen häufiger ausreizt – das macht auf der GSX-R jeder – fackelt übrigens zwischen 6,5 und 7,5 Liter Normalbenzin auf 100 Kilometern ab.
Sollten zufällig Diesel-Kombis oder Zweizylinder-Chopper dem Vorwärtsdrang des Suzuki-Treibers im Wege stehen, sorgen die Doppelscheibenbremse im Vorderrad und die Einzelscheibenbremse im Hinterrad für kräftige Verzögerung. Die zum Bremsgriff-Würgen erforderliche Handkraft liegt allerdings hoch, so daß unbeabsichtigtes Überbremsen nahezu ausgeschlossen ist. Um den legendären Oi-Oi-Oi-Kurven ihren Schrecken zu nehmen, ist die Bremsanlage goldrichtig abgestimmt.
Die Suzuki ist im Reigen der 600er-Sportler die mit Abstand gewöhnungsbedürftigste Maschine. Wer Spaß an Renntrainings hat und nicht ausschließen möchte, irgendwann einmal aktiv in den Straßenrennsport einzusteigen, bekommt für 15.990,- DM ein absolut kompromißloses Brenneisen. Dieses Motorrad ohne Probefahrt zu kaufen, ist grob fahrlässig. Wer allerdings nach dem Testritt absteigt, sich verschwitzt aus der einteiligen Lederkombi schält, das Lockern der verspannten Muskulatur genießt und sich beseelt lächelnd auf ein kaltes Bier freut, kann mit der GSX-R durchaus glücklich werden.