aus bma 11/99

von Gunther Niemann

Wir fahren in den sonnigen Süden … von England! So verabschieden wir uns, packen aber Regenschirm und Regenkombi, warme Handschuhe und Pudelmütze ein. Und staunen nicht schlecht, als wir am nächsten Morgen beim Blick über die Reling der MS Prince of Scandinavia in die Sonne blinzeln.
Mit leichter Skepsis fahren wir vom Schiff, denn nun heißt es volle Konzentration, links fahren ist angesagt! Mehr oder weniger geduldig quälen wir uns durch den dichten Verkehr der Londoner Aussenbezirke. Schade, dass wir den Beiwagen nicht hochklappen können! Es wird immer wärmer, die Sonne strahlt vom blauen Himmel, wirklich nicht „typical english”. Natürlich müssen wir die gigantische Anlage von Schloss Windsor wenigstens von aussen bewundern. Dann aber nichts wie weg aus dem Gewühl, immer Richtung Westen.
In Deutschland haben wir Bed & Breakfast-Unterkünfte vorgebucht, damit wir nicht lange nach freien Zimmern suchen müssen. Leider entfällt damit die Sucherei keineswegs, denn die vorgebuchten Häuser zu finden, sollte sich als rechte Pfadfinderei erweisen. Immerhin bleibt die 99%ige Wahrscheinlichkeit, dass dort auch wirklich reserviert ist. Und meistens kommen sofort hilfsbereite Engländer, wenn wir mit ratlosem Blick an der Kreuzung stehen und auf die Karte gucken: „Are you lost? May I help you?”
Unsere erste B&B-Station heißt „Eastcott Manor” und ist ein „very typical english farmhouse” – ca 500 Jahre alt, mit einer „very typical english Landlady” und ebensolcher Einrichtung. Nicht zu spät fallen wir todmüde in die leicht durchgelegenen Betten. Zwei Wochen lang stärkt uns das English Breakfast mit Cornflakes, Schinken und Eiern, meist mit Grilltomate, manchmal sogar mit Bratkartoffeln und Piken.
Wir gehen auf Besichtigungstour, fahren zunächst nach Stonehenge und lassen uns durch die mystischen Steine um Jahrtausende zurückversetzen. Noch vor dem Bau der Pyramiden in Ägypten sind hier riesige Steinquader von weit her mit Muskelkraft und Ausnutzung einfacher physikalischer Gesetze herangeschafft worden. Schön, dass es auch noch ungelöste Fragen gibt. Was war Stonehenge: Sonnentempel, Kalender, Sternwarte?

 

Nicht weniger beeindruckend, wenn auch erheblich neueren Datums sind die großen englischen Kathedralen wie die von Salisbury oder Wells, Gotik des 13. Jahrhunderts.
Auf kleinen Straßen fahren wir Richtung Bridgewater, wo uns an die hundert Motorräder entgegenkommen. Abwechslung für’s Auge, Sound für die Ohren! Picknick dann mit Blick auf die „Celtic Sea”, allerdings ist es hier durch den kalten Wind auch ganz schön „schattig”.
Im Exmoor sind schon viele Gruselfilme gedreht worden, wir sind zwar weder Vampiren noch Frankenstein begegnet, aber es ist tatsächlich eine ganz besondere, gespenstische Atmosphäre, wenn die Nebelschwaden über das Moor ziehen und in knorrigen Bäumen hängenbleiben. Gut passen die scheinbar niemandem gehörenden Pferde in diese Landschaft.
Enge, von hohen Hecken gesäumte Straßen bringen uns zurück an die Hauptstraße. Schon bald wecken viele alte unglaublich interessant aussehende Vehikel am Straßenrand unsere Neugierde. Wir trauen unseren Augen kaum, als diese Fahrzeuge dann auch noch einen total vermatschten Waldweg mit voller Power bergauf geprügelt werden. Lachend wird uns erklärt, dass es sich um eine Ausfahrt eines „vintage clubs” handele mit „Hill climbing”- Prüfung als Begleitprogramm. Auf der Weiterfahrt begegnen wir vielen Schafherden mit kleinen niedlichen Osterlämmern, die Toby am liebsten vom Beiwagen aus streicheln möchte.
Schließlich bin ich froh, als wir in Silverton bei Exeter endlich das „Georgian Farmhouse” gefunden haben, wo wir weitere zwei Nächte bleiben werden. Bei mir kündigt sich eine Grippe an, gefördert noch durch die unterkühlten Räume, die im März denn doch noch nach einer Heizung verlangen. Ausserdem macht sich die vierköpfige Besatzung und das Gepäck erheblich in den Armen bemerkbar!
Am nächsten Tag darf unsere dicke Berta pausieren, wir durchstreifen zu Fuß die Felder der Umgebung, dürfen zur Mittagszeit in einem Pub sogar Live-Musik mit Rock’n Roll hören.
Dann kommt, was kommen musste: am nächsten Morgen fällt englischer Landregen, Wind kommt auf. Das ist das richtige Wetter für’s Dartmoor – das mit 480 qkm größte englische Moor. Eine wild-romantische Szenerie zieht uns in ihren Bann: auch hier frei laufende Pferde, Schafe, kleine Bäche, stark morastige Stellen, so dass beim Spazierengehen Vorsicht geboten ist. Windböen treiben den Regen vor sich her und lassen uns trotz dicker Handschuhe, warmer Jacke und Mütze frösteln. Doch es ist wunderschön hier auf den kleinen kaum befahrenen Straßen unterwegs zu sein.
Auch der nächste Tag bietet uns eher typisch englisches Wetter. Wir sind nun auf dem Weg nach Penzance in Cornwall. Zunächst fahren wir auf dem Motorway, was wenig Spaß aber Kilometer bringt. Dann zweigen wir ab Richtung St. Austell und Falmouth – kleine nette Orte am English Channel – und müssen hier natürlich lecker Fish ’n Chips essen. Auf die Chips kommen hier übrigens weder Ketchup noch Mayo (Banause, wer sowas macht…) sondern Essig. Mmmmh!
Penzance selbst ist ein nettes Städtchen mit Piratenatmosphäre, aber vor allem lohnen sich Ausflüge sowohl zu Fuß als auch mit Gespann natürlich. Ein ganz niedlicher Ort zum Beispiel ist Mousehole (Mauseloch); hier ist alles klein und niedlich – die Gassen, die Läden, der Hafen.
Eine Cornwall-Rundfahrt ist ein Traum für Motorradfahrer: kleine Straßen, viele Kurven, wenig Verkehr, malerische Landschaft. Hier kann man das Linksfahren schon mal vergessen, was mit einem freundlichen Hupen des entgegenkommenden Fahrzeugs quittiert wird. Logan’s Rock – nach 30 Minuten Fußweg – bietet eine eindrucksvolle Aussicht auf die wild zerklüftete Küste und goldgelbe Strandbuchten. Hier ist Rosamunde Pilcher-Land! Gaby allerdings kriegt Zustände, weil die Kiddies natürlich wie Gemsen auf den Felsen klettern, die zig Meter zum Meer abfallen.
Dann schauen wir uns das Ergebnis einer ehrgeizigen und starken Engländerin an. Rowena Cade hatte den Traum von einem eigenen Theater am Meer und verwirklichte ihn. Anfang der 30er Jahre ließ sie Terrassen in die Felsen am Meer schlagen und packte selbst hart mit an, bis das Minnack Theatre 1932 für die ersten Shakespeare-Vorstellungen im Mondscheinlicht und mit Meeresrauschen fertig war.
Während Lands End (die westlichste Spitze Englands) wegen seiner frech-kommerziellen Vermarktung von uns verschmäht wird, lohnt sich ein Abstecher zum kleinen Künstler- und Badeort St. Ives; der Trubel hier rund um die Galerien, Souvenir- oder Stoff-Läden bietet einen starken Kontrast zur grau-grünen Landschaft. Auch hier – wie vielerorts – lockt unser breites weißes Gespann die Leute an; und dann ist‘ s auch noch eine BMW. „Lass sie mal hören”, bittet der freundliche ältere Herr, „ich bin früher BSA gefahren…”
Unbedingt empfehlenswert ist ein Ausflug von Penzance ins nur wenige Kilometer östlich gelegene St. Michael’s Mount, eine Felseninsel mit 900-jähriger Geschichte. Die Benediktiner errichteten Kloster und Kirche, im 16. Jahrhundert machte die englische Krone eine Festung gegen die Spanier daraus, im 17. Jahrhundert wurde die kleine Insel vom Oberst St. Aubyn erobert und ist heute in der Verwaltung des National Trust – bewohnt von einem Lord, einem Nachfahren von Lord St. Levan. Bei Ebbe gehen wir trockenen Fußes über den 800 m langen Damm. Es ist so interessant, die Burganlage zu besichtigen, dass wir erst mit Einsetzen der Flut den Rückweg antreten, was zu leichter Panik und vor allem zu pitschnassen Füßen führt. Man hätte natürlich auch das Boot nehmen können!
Die Zeit vergeht wie im Fluge. Da wir uns noch ein paar Tage London gönnen wollen, müssen wir nun nach drei Tagen Cornwall verlassen. Wir fahren durch Devon und Dorset mit einer Übernachtung in Christchurch. Überall bewundern wir hunderte von blühenden Narzissen in den Parks, an Wegen und Straßen.
London macht den England-Trip perfekt. Natürlich lassen wir das Gespann an der B&B-Pension stehen, fahren mit der „tube” (U-Bahn) und Bus und saugen das Großstadtleben förmlich auf: Ein Besuch bei Harrods, der einem fast die Sprache verschlägt ob des herrschenden Luxus; Changing of the Guard am Buckingham Palace versteht sich von selbst; Durchstreifen einiger Parks wie Kensington, Hyde Park u.a.; dann einen Blick auf den Tower of London (Wartezeit zur Besichtigung 1 Stunde!), Mme Tussauds Wachsfigurenkabinett schenken wir uns wegen der Wartezeit von mehr als einer Stunde und horrenden Eintrittspreisen. Dafür schmunzeln wir erheblich preiswerter im netten kleinen Sherlock Holmes Museum über Holmes und Watson; sehen uns Westminster Abbey und die Houses of Parliament an, schlecken Eis am Trafalgar Square und durchstöbern Flohmarkt-Läden in der Portobello Road. Dann aber stürzen wir uns erst richtig ins Großstadtleben: Gaukler, Sänger, Porträtmaler, Hippies und Punks bevölkern Piccadilly Circus, unzählige chinesische Lokale machen einem in Sohos Chinatown den Mund wässrig. Und das schönste: es ist schönstes Sommer-Wetter, nichts sehen wir vom berüchtigten Londoner Nebel, kurzärmelig sitzen wir mittags draussen und essen.
Drei Tage London sind natürlich viel zu wenig. Aber was soll’s, die Zeit ist um, die Fähre wartet nicht. Und da bietet so eine Schiffspassage dann noch fast 24 Stunden Zeit zum Träumen, Erinnern und Erholen.