aus bma 08/05

von Konstantin Winkler
Südengland
Die Blätter der Palmen rauschen leise im Wind. Dazu zieht ein laues Lüftchen vom Meer herauf und streicht über das Land. Wir sitzen am langen weißen Strand und schauen den Wellen zu. Urlaub am Mittelmeer oder in der Karibik?
Nein, wir sind im Norden Europas, und zwar dort, wo es meist kalt ist und regnet: an der Südküste Großbritanniens. Der Golfstrom ist „schuld” daran, daß hier so ein mildes Klima herrscht. Und selbiger sorgt auch für ein Pflanzenwachstum, das man schon fast als subtropisch bezeichnen kann.
Mit dem Motorrad nach England – da muß nicht nur die Regenkombi mit, sondern auch das Zelt und am besten für die Vorräte noch der Beiwagen. Das BMW K 100-Gespann bietet sich als Reisefahrzeug förmlich an. Der Fahrer findet Schutz hinter der serienmäßigen RS-Verkleidung, Frau und Kind können es sich im EML-Beiwagen gemütlich machen und bei Bedarf das Verdeck schließen. Das Reisegepäck verschwindet in den beiden Krauser-Koffern des Motorrades sowie im riesigen Kofferraum des Seitenwagens, die Campingausrüstung wird auf die beiden Gepäckträger verteilt. Der Tankrucksack wird noch angebracht, denn wir müssen reichlich Landkarten mitnehmen: Fünf Länder sollen insgesamt durchquert werden.
Über die stinklangweilige, überfüllte und unfallträchtige A1 gelangen wir in den „Kohlenpott”, anschließend führt uns die A2 über Duisburg und Venlo in die Niederlande. Der Verkehr nimmt ab, die Temperaturen leider auch, aber dafür sind weit und breit keine Regenwolken in Sicht.
Die A67 führt uns an Eindhoven vorbei und heißt nach knapp 80 Kilometern A21. Wir sind nun in Belgien und erreichen Antwerpen, einst die reichste Handelsstadt der Welt. Viel scheint davon nicht übrig geblieben zu sein. Als wir die richtige Autobahnabfahrt verpassen, kommen wir ungewollt in den Genuß einer Stadtrundfahrt.

 

Viel schöner ist das 50 Kilometer entfernte Gent. Im Norden der Stadt liegt der zweitgrößte Hafen Belgiens. Und auf einer Halbinsel befindet sich die historische Altstadt. Viele Bauwerke aus dem 14. bis 16. Jahrhundert gibt es zu sehen: Kathedralen, Türme, aber auch etliche Museen und die finstere Burg Gravensteen mit altem Kerker und komplett eingerichteter Folterkammer.
Eine Stunde Fahrzeit später ist die Nordseeküste erreicht. Zwischen Oostende, dem größten Seebad Belgiens, und der nahen französischen Grenze befindet sich in Koksijde die höchste Düne an der belgischen Küste. Die Hoge Blekker mißt 33 Meter.
Launceston CastleIn der ersten größeren Stadt Frankreichs, in Dunkerque, wird ein preiswertes Quartier bezogen. Fahrer und Bootspassagiere sind nach fast 800 Kilometern Fahrt doch ganz schön geschafft, trotz der Langstreckenqualitäten, die das K 100-Gespann bietet.
Nun sind es nur noch 40 Kilometer bis Calais. Zwei Möglichkeiten gibt es um von der französischen Hafenstadt nach England zu kommen. Die schnellste ist, in 35 Minuten, mit „Le Shuttle” durch den Eurotunnel nach Folkstone. Viel romantischer ist es allerdings, die doppelte Zeit zu investieren und sich mit der Kanalfähre den weißen Klippen von Dover zu nähern.
Fahrtechnisch erwartet mich Neues und Ungewohntes: Der Beiwagen befindet sich plötzlich auf der falschen Seite. Aber zum Glück sind die ersten Meilen autobahnähnlich ausgebaut, so daß man nicht viel verkehrt machen kann. Nur 100 Kilometer sind es zur Achtmillionen-Metropole London. Wir steuern den Campingplatz „Abbey Wood” an. Ein echter Geheimtip. Nicht nur, weil morgens die Erdhörnchen ums Zelt laufen und auf Brotkrümel vom Frühstück lauern, sondern auch, weil wenige Minuten Fußmarsch entfernt eine Bahnstation ist, die in 30 Minuten ins Zentrum der britischen Hauptstadt fährt.
Also Zündschlüssel gegen „One Day Travel Card” getauscht und das Leben in vollen Zügen genossen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn es ist wirklich unglaublich, was für Menschenmassen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach London befördert werden. Die Stadt ist riesig, so groß wie Gran Canaria – 1600 Quadratkilometer. Doch der für Touristen interessante Teil beschränkt sich auf 20 Quadratkilometer am nördlichen Themseufer: Westminster Abbey, Big Ben, die hochklappbare Tower Bridge und der Tower mit den Kronjuwelen. Das läßt sich alles zu Fuß, mit der U-Bahn und den legendären roten Doppelstockbussen bestens bewältigen. Nach zwei Nächten heißt es Abschied von den Erdhörnchen nehmen. Wir verlassen London in südwestlicher Richtung.
Südengland – das ist ein Trip auf den Spuren der Vergangenheit und zu magischen Kultstätten. Die erste ist nach 150 Kilometern Fahrt erreicht: Stonehenge. Niemand weiß genau, was sich die Erbauer des 2. Jahrtausends vor Christi Geburt gedacht haben, als sie die bis zu 50 Tonnen schweren und vier Meter hohen Monolithe paarweise aufrichteten und zu allem Überfluß auch noch querliegende Steinplatten obendrauf platzierten. Eine Millionen Touristen besuchen jährlich das weltberühmte Heiligtum. Wir suchen lieber das Weite.
Campinplatz im Clifford Bridge ParkÜber Wincanton, Ilcester und Honiton gelangen wir in die Universitätsstadt Exeter. Wir sind jetzt in Cornwall, der wohl bekanntesten Grafschaft Südenglands. Die Südküste bietet viele Strände, Badeorte und Fischerdörfer, die vor allem im Sommer total überlaufen sind. Uns zieht es zur Nordküste. Sie bietet abwechselnd schroffe Felsklippen, blühende Felder und Sandstrände. Der Wind weht hier viel frischer und herber als im Süden. Und immer wieder trifft man auf Schlösser und Ruinen.
Über Okehampton gelangen wir nach Launceston. In der alten Marktstadt gibt es neben mehreren mittelalterlichen Kirchen, zwei Brücken aus dem 16. Jahrhundern und schmucken georgianischen Häusern auch die stattliche Ruine eines Normannenkastells aus dem 13. Jahrhundert zu bestaunen.
Sagenhaft geht es weiter, nicht nur was Wetter und Landschaft betrifft. Auch das BMW-Gespann fühlt sich in Cornwall, dem Land König Artus, wohl. Gut ausgebaute Straßen, ab und an ein paar Kurven, da haben die 90 Pferdestärken und der volle Liter Hubraum, verteilt auf vier Zylinder, trotz der fast erreichten 600 Kilo zulässigen Gesamtgewichts keinerlei Mühe. Anstrengen müssen wir uns, wenn es heißt, mit Helm und Motorradklamotten zu Fuß die Sehenswürdigkeiten zu erkunden.
Über steile Stufen geht es hinauf auf einen hohen Felsen, auf dem das Tintagel Castle thront. Hier speiste einst die legendäre Tafelrunde. Etwas weiter unten liegt „Merlins Höhle”, wo der sagenhafte Zauberer seine geheimen Tränke gemixt haben soll. Cornwall, das alte mystische König-reich der Kelten, das so wunderbar zum Fabulieren einlädt. Hier, zwischen Bude Bay und Padstow Bay, liegen auch die höchsten Klippen dieser Gegend.
Wir fahren weiter Richtung Süden. Noch knapp hundert Kilometer bis zum südwestlichen Ende von Großbritannien. Bezeichnenderweise heißt es Land’s End. Doch statt Einsamkeit herrscht hier Rummelplatz-Athmosphäre. Wenn der Sturm über die Klippen tobt, hat man das Gefühl, hier sei nicht nur England, sondern auch die ganze Welt zu Ende.
Zeit für die Rückreise. Und für das nächste Nachtquartier. An jeder Ecke lesen wir „Bed and Breakfast”. Wo diese Schilder hängen, kann man zwar gut, aber nicht unbedingt preiswert übernachten. Da sind die vielen wunderschön gelegenen und vor allem sauberen Campingplätze eine echte Alternative.
Mitten in CornwallDer nächste Tag führt uns in den Dartmoor-Nationalpark. In diesem fast tausend Quadratkilometer großen, mit Moor, Sümpfen und Heideland überzogenen Granitbuckel, hausten früher die Kelten. In den weiten Moorlandschaften trifft man nur selten auf Gegenverkehr. Und wenn der Festlandeuropäer nicht aufpaßt, ist er plötzlich auf der verkehrten Straßenseite gelandet und wird zum Geisterfahrer.
Gewöhnungsbedürftig ist auch die englische Küche, die nicht überall so schlecht ist wie ihr Ruf. Dennoch sei vor allem beim erfreulich reichhaltigen Frühstück vor den Würsten gewarnt, die unweigerlich neben Bacon and Eggs plus gegrillter Tomate liegen. Auch mittags dreht sich dem Gourmet der Magen um, wenn er das traditionelle Steak-and-Kidney-Pie bestellt. Was sich so toll anhört ist nämlich Pastete mit Rindfleisch und Nieren. Guten Appetit! Dafür schmeckt das Bier in den urgemütlichen Pubs hervorragend.
Weiter geht es Richtung Dover. Wir fahren durch die Hafenstädte Southampton und Portsmouth. Hier liegt die „Victory”, das berühmte Flaggschiff Admiral Nelsons, auf dem er in der siegreichen Schlacht von Trafalgar im Jahre 1805 fiel.
Bevor wir Brighton, Englands größtes Seebad, erreichen, machen wir noch einen Abstecher zum Arundel Castle. Die trutzige Burg aus dem 12. Jahrhundert ist im Stil des 15. Jahrhunderts eingerichtet. Drinnen kann man auf eindrucksvolle Weise sehen, wie der englische Adel im Mittelalter lebte.
Wir schippern auf der „Pride of Kent” über die (Wasser-)Straße von Dover. Die Rückfahrt verlief ähnlich wie die Hinfahrt, nur daß das Wetter schlechter war und die Stadtrundfahrt durch Antwerpen entfiel.
Unglaublich aber wahr: Die Regenkombi blieb während der England-Tour jungfräulich unberührt im Kofferraum. Nicht nur das Wetter, auch das Gespann zeigt sich von seiner besten Seite. Technische Probleme? Fehlanzeige. Der wassergekühlte Reihenvierer verrichtete problemlos seinen Dienst. Nur der Spritverbrauch war nicht immer zufriedenstellend. Während bei gemütlicher Landstraßenfahrt alle 100 Kilometer 5,5 Liter Superbenzin durch die Einspritzanlage flossen, war es bei zügiger Autobahnfahrt fast die doppelte Menge. Dennoch hat die rund 3000 Kilometer lange Urlaubstour viel Spaß gemacht.