aus bma 9/11 – Reisebericht

von Egon Milbrod

Motorradreise Russland„Willst Du dieses Jahr nicht wegfahren?“ fragte meine Frau eines Morgens beim Frühstück. Ich bemühte mich um totale Ruhe und antwortete zwischen zwei Bissen: „Doch, morgen Vormittag!“ Damit war alles gesagt, denn heimlich hatte ich mir schon ein Visum für Russland besorgt.

Am nächsten Morgen packte ich ein paar Sachen zusammen. Über die langweilige Ostseeautobahn ging es immer ostwärts. Es war einer jener August-Tage, von denen man meinte es sei Ende September. Seit Tagen gingen die Temperaturen nicht über 21°C und der scharfe Wind machte das Fahren nicht einfacher.

An der polnischen Grenze hielt ich vergeblich nach irgendeinem Grenzbeamten auf deutscher oder polnischer Seite Ausschau. Diese Grenze ist also auch keine mehr! Am sehr späten Nachmittag erreichte ich Gdingen und beschloss, das erste Hostel zu nehmen, das auf dem Weg lag. Dieses befand sich inmitten des Hafenviertels, unmittelbar neben der Werft, an der die Streikwelle durch die Gewerkschaft Solidarnoc begann.

Die Grenze nach Litauen ist wieder einmal ein Hohn und den Namen nicht wert. Man kann einfach durchfahren und niemanden stört es. Litauen ist die größte der drei baltischen Republiken, etwas größer als die Schweiz und annähernd so groß wie Bayern. Vilnius, die Hauptstadt, ist heute eine von Touristen gerne besuchte Stadt. So kommt es, dass ich um 18 Uhr in keinem der vier Hostels ein Nachtlager erhielt. Ich lerne zum ersten Mal einen Umstand schmerzlich erkenen, der mir immer wieder auf dieser Reise begegnen wird: Es ist im ehemaligen Ostblock außerordentlich schwierig, eine Unterkunft zwischen 20 und 50 Euro zu bekommen. Erst nach vier Stunden Sucherei habe ich ein Nachtlager ca. 15 km vom Stadtzentrum entfernt gefunden, das meinem Budget halbwegs entspricht. Dafür ist der nächste Tag, den ich für einen Stadtbummel in Vilnius nutze, einer der ganz wenigen auf meiner Reise an dem es nicht regnet!

Ostsee-Bernstein-MarktVon den vielen Attributen, die man dem Stadtkern Vilnius zukommen lässt, finde ich persönlich, das „Jerusalem des Nordens“ am zutreffendsten, obwohl ich selbst noch nicht in Jerusalem war. Kopfsteinpflaster, idyllische, verwinkelte Gässchen und Hinterhöfe, geduckte Häuser, durchbrochen durch große, russisch-orthodoxe oder katholische Kirchenbauten, prägen das Bild der Stadt. Ein steinernes Bilderbuch der europäischen Architekturgeschichte. Vom Burgberg, der eine herrliche Sicht über die Vilnja auf die Bürohochhäuser der Neustadt zulässt, wandere ich den üblichen touristischen Pfad entlang. Auf kleinen Märkten wird neben dem üblichen Tand immer wieder Bernstein, das Gold der Ostsee, in den verschiedensten Variationen angeboten. Man kann sich als Tourist wohl fühlen, es ist alles sehr ordentlich und mit einigen Brocken Englisch kommt man sehr weit. Die vielen Bauten der jüdischen Handelsleute befinden sich um den Rathausplatz und zwischen der Universität und dem Tor der Morgenröte, dem letzten erhaltenen Stadttor. Es wird ungewöhnlich viel geheiratet, ich kann allein an diesem Tag 15 Brautpaare in der City entdecken. Es herrscht kein Mangel an Restaurants, Bars und Cafés in der Altstadt. Sie laden zum Verweilen ein, wobei das Preisniveau dem in einer deutschen Kleinstadt durchaus ebenbürtig ist.

Mich zieht es auf dem weiteren Weg zum Europa-Park, dem geografischen Mittelpunkt Europas, ca. 30 km nördlich von Vilnius. „Schön wie im Wald“, sagt man in Litauen. Folgerichtig hat man den Mittelpunkt Europas zu einem Skulpturenpark gestaltet. Ich entschließe mich über Nebenstraßen nach Daugavpils in Lettland einzureisen. Es schauert und wieder einmal betragen die höchsten Temperaturen 17°C. Da ist die Sehnsucht nach einer trockenen Unterkunft größer als der Blick für die Schönheiten weitab der Hauptstraße. Ich erreiche Riga, die Hauptstadt Lettlands und komme in der Altstadt in einem Backpacker Multishare-Room mit weiteren 9 Personen unter. Immerhin besser, als unterwegs im Wald zelten.

Skulpturenpark in LitauenDie Altstadt von Riga ist für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrt, auch wenn die Poller so weit auseinander sind, dass Motorräder durchkommen. Aber das ist nicht die einzige Besonderheit von Riga. Mein Eindruck von der Stadt ist, dass hier der russische Einfluss aus den letzten 200 Jahren noch am deutlichsten spürbar ist. Livland und Kurland unterstanden lange Zeit dem deutschen Orden, wechselten dann zu Polen-Litauen, Schweden und letztendlich zu Russland. Die Arbeitslosigkeit in Lettland ist heute die höchste in den baltischen Staaten. Im Hafen von Riga werden Güter für das bitterarme Nachtbarland Weißrussland umgeschlagen und über den Landweg transportiert. Dabei ist dieser Platz an der Daugava nicht erst seit der Hanse-Zeit ein bedeutender Handelspunkt gewesen. Dem Reichtum durch die rege Handelstätigkeit ist es zu verdanken, dass der historische Stadtkern heute zum Weltkulturerbe gehört. Die Rigaer lieben es, durch die herausgeputzten Gassen zu flanieren und in einem gemütlichen Straßencafé zu sitzen. Die Innenstadt gilt ihnen als Bühne, auf der sie von ihrem ernüchternden Alltag Abstand nehmen können. So ist es nicht verwunderlich, dass einem viele junge und außerordentlich „schräge Vögel“ auf Schritt und Tritt begegnen. Daneben trifft man auffällig viele russische oder weißrussische Touristen, die durch ihre laute Sprache und ihr Verhalten auffallen. Mit gemischten Gefühlen verlasse ich Riga. Auf der einen Seite angetan von der Architektur und dem Flair dieser Handelsstadt, die meiner Heimatstadt Lübeck durchaus den Rang streitig machen könnte, andererseits von der Verschiedenheit der Leute hier, dem vielen Nachholbedarf baulicher und wirtschaftlicher Art irritiert. Aber auch voll Anerkennung für das seit dem Ende der Okkupation Geleistete. Ich verlasse Riga und fahre über Nebenstraßen durch den Gauja-Nationalpark. Anschließend stehen einige Pils auf dem Programm. Dabei handelt es sich um Schlösser bzw. Landsitze ehemaliger betuchter Großbürger. So gelange ich auch zum Minhauzena muiza-muzejs. In diesem kleinen und bescheidenen Landhaus verbrachte der in der Nähe Hannovers geborene Baron Münchhausen die letzten Jahre seines Lebens. Hier erzählte er im Dorfkrug die berühmten Geschichten. Heute ist das Häuschen ein sehr stil- und liebevoll eingerichtetes Museum, abseits der Schnellstraße zwischen Riga und Tallin und ein Geheimtipp.

PetersburgStarke Regenfälle und Temperaturen mit zeitweise unter 15°C veranlassen mich, weiter zu fahren. In Tallin, der Hauptstadt Estlands, erreiche ich nach einigem Suchen ein Hostel an der Perepherie. Mein Stadtbummel durch Tallin beginnt am Denkmal der „Estionia”-Katastrophe. Bereits zum dritten Mal bin ich in Tallin und immer wieder angetan von der sorgsam und liebevoll gepflegten Altstadt. Obwohl auch in Estland ein großer Prozentsatz der Bevölkerung russischer Herkunft ist, wird überall überwiegend Estnisch gesprochen, welches sehr stark mit dem Finnischen und Ungarischen verwandt ist. Nahezu jeder kann sich in einem guten Englisch ausdrücken weil es die Sprache ist, mit der sich die baltischen Republiken untereinander verständigen. Dass der Tourismus sich zu einem profitablen Wirtschaftszweig entwickeln konnte, ist nicht Verdienst einer totalen Liberalisierung, sondern einer Bündelung der Kräfte und einem Konsensstreben. Der Stolz der Esten auf die eigene Kultur hat sich über Jahrhunderte erhalten können. Deshalb sind heute selbstbewusste, gebildete junge Leute dem Touristen mit Rat und Tat behilflich. Ich genieße es, den alten Thomas auf dem Rathaus zu grüßen und die Dicke Margarete zu streicheln. Danach gehe ich über das lange Bein zum Domberg und über das kurze Bein zurück. Vom Domberg hat man einen herrlichen Blick über das alte Tallin, den Hafen und den monumentalen Olympiastützpunkt von 1980 Pirita. Dass der Zar mitten auf dem Domberg eine überdimensionale russisch-orthodoxe Kirche bauen ließ vergisst man, wenn man sich unterhalb des Domberges in einer der engen Gassen befindet, die Auslagen in den „Butiiken” bewundert oder in einem der vielen stilvollen Cafés und Restaurants sitzt.

PetersburgIch verlasse Tallin. Am Rande des Lahemaa Nationalparkes stoße ich auf einen spärlich besuchten Erholungspark. Hier im äußersten Osten von Estland beträgt der Anteil der Russischen Bevölkerung durch die hohe Industrialisierung über 90 %. Heute sind die vielen Fabriken nur noch Ruinen und die Ölschieferverarbeitung unrentabel. Die vielen Russen gelten als Ausländer und erhalten weder eine Arbeitserlaubnis noch einen Pass, wenn sie der estnischen Sprache nicht mächtig sind. Sie sind unbeliebte Staatenlose in einem Land, in dem sie häufig geboren oder durch ihre Arbeit hierher verschlagen wurden. Ob und wann einmal die Grenze nach Petersburg geöffnet wird und sich dann diese Region und der Erholungspark beleben, steht in den Sternen.

Endlich wieder eine Grenze! Die LKW stauen sich am frühen Vormittag schon kilometerweit aus der Stadt Narva. Ich fahre bis zum Schlagbaum durch und werde auch bald in die Zone gewunken. Sah das Grenzgebäude der Esten schon nicht allzu gut aus, so könnte man im Angesicht der windschiefen Container auf russischer Seite auf die wirtschaftliche Lage des Landes schließen. Doch bereits nach einer Stunde waren die Grenzformalitäten erledigt. Einige Dokumente waren in Gegensatz zu früher nicht mehr nötig und die Computer sind neuerdings sogar vernetzt und man war in der Lage Daten abzurufen. Moderne Technik, in Form von Lesegeräten, hält zögernd ihren Einzug und die übliche Versicherung konnte in Euro bezahlt werden. Es scheint, als wenn sich der russische Bär etwas bewegt hat.

Panzerschiff AuroraSchlagartig hinter der Grenze wird die Straße zur Piste. Jetzt zeigt sich der Vorteil der GS und ich „bügele“ die Schlaglöcher so weg. Um den Bus- und LKW-Verkehr zu meiden, fahre ich wieder Nebenstraßen und erlebe Russland pur. Durch den Regen und durch die vielen LKW ist von der Straße auf über 50 km nichts zu erkennen. Wassergefüllte Schlaglöcher, die bis zu 0,5 m tief sind, wechseln sich ab mit LKW-Kolonnen, die im Zick-Zack im Schlamm nach einem Weg suchen.

Mein Hostel liegt in unmittelbarer Nähe des Winterpalastes, gegenüber der Staatsbank. Natürlich muss das Motorrad auf der Straße stehen, aber kaum einer der Passanten nimmt Notiz davon. Ich nutze die Gelegenheit in Petersburg die Sehenswürdigkeiten zu besuchen, die ich bei meinen vorhergehenden Besuchen nicht geschafft habe. Während vergangener Reisen habe ich keine Fotos von Petersburg bei Nacht machen können und auch die eine oder andere Aufnahme muss nachgeholt werden. Im russischen Museum möchte ich mir die bekanntesten Bilder des Malers Ilja Repin ansehen, doch weite Teile des Museums werden renoviert und viele Abteilungen sind geschlossen. Ich zahle hier, wie auch sonst, den 2- bis 3-fachen Eintrittspreis. An der Kunstkammer darf ich mich trotzdem in die Schlange einreihen und wie alle Russen über 2 Stunden auf Einlass warten. Peter I. hat die Russen ins Museum gebracht, indem er ihnen beim Ausgang ein Glas Wodka und ein Stück Brot gab, heute ist die anatomische Sammlung der Anziehungspunkt. Mich zieht es zum Gottorfer Globus, den sich Peter I hat schenken lassen. Da er dann nur umher lag, verbrannte er irgendwann und wurde als Replik mit kyrillischer Beschriftung neu gebaut. Nach dem Krieg war er als deutsches Kulturgut kurze Zeit in Deutschland und befindet sich jetzt wieder in russischen Besitz. Anlässlich des Putin-Besuches 2004 wurde in Schleswig-Gottorf der Globus samt Globus-Haus neu gebaut und der Barock-Garten annähernd in seiner alten Schönheit wiederhergestellt. So gelang es mir innerhalb kurzer Zeit beide Exemplare zu sehen und Vergleiche anzustellen.

Kishi Karelien-KlosterIch verlasse Petersburg um nach Petrosawodsk in Karelien zu reisen. Von hier aus sind es nur ca. 1,5 Stunden mit dem Tragflächenboot zu einem Weltkulturerbe der besonderen Art. Inmitten dieser Seenlandschaft hat sich über Jahrhunderte ein altes Kloster erhalten. Herausragendes Bauwerk ist die 35 Meter hohe Verklärungskirche, die von 22 Kuppeln bekrönt wird. Sie gilt als der kühnste erhaltene Holzbau Russlands. Es ist außerordentlich schwierig solche Holzbauten zu erhalten. So wäre die Verklärungskirche ohne das Gerüst in ihrem Inneren schon längst eingestürzt. Die meisten der Balken sind völlig morsch. Seit Jahrzehnten wird gestritten wie die Kirche vor dem Verrotten zu bewahren sei. Es bleibt zu hoffen, dass das Gebäude noch zu retten ist, bevor der Streit entschieden ist. Immerhin bringen die reichen ausländischen Touristen, die mit Fluss-Kreuzfahrtschiffen hier angelandet werden, Geld in die notorisch leeren Kassen auch wenn trotz des 7-fachen Eintrittspreises Dolmetscher oder Be­schriftungen in englischer Sprache auf dem Gelände außerordentlich rar sind.

Ich verlasse Karelien und fahre quer durch die Wälder in Richtung Finnland. Hier, abseits der Magistralen kann die GS ihre Qualitäten zeigen. Ein Motorrad-Urlaub ist eigentlich ein wenig anders im Gegensatz zu diesem Trip. Es verging kein Fahrtag an dem es nicht mindestens eine Stunde geregnet hat. An kaum einen Tag erreichte das Thermometer 20°C. Darüber können auch nicht die vielen Reiseeindrücke und Erlebnisse hinwegtrösten! Insgesamt jedoch sind die Balti-schen Länder eine Reise wert. Nur einen Billig-Urlaub sollte man nicht erwarten! Aber wer Natur erleben will ist in diesen freundlichen Ländern sicher und bestens aufgehoben.