aus Kradblatt 1/19, von Jens Riedel

Royal Enfield Himalayan: Der Ruf der Berge …

Royal Enfield Himalayan, Modell 2018

Royal Enfield zu bezichtigen, auf der Retro-Welle mitzuschwimmen grenzt beinahe an Blaspehmie. Die indischen Motorräder mit den traditionsreichen Wurzeln waren schon immer per se retro. Umso mehr überrascht das wirklich erste echte neue Motorrad nach gefühlten Jahrzehnten. Die Himalayan, so der ebenso findige wie werbeträchtige Name, schlägt aber immer noch keineswegs eine Brücke in die Neuzeit.

Front - Royal Enfield Himalayan, Modell 2018 Ja, auch die Neuschöpfung aus Chennai ist in gewissem Sinne ein Retro-Bike. Doch anders als ihre Verwandtschaft vom Schlage einer Classic, Bullet oder Continental hat die Himalayan die 60er Jahre hinter sich gelassen und ist zumindest in den Achtzigern bis frühen Neunzigern angekommen. Um es schon einmal vorwegzunehmen: Auf der Royal Enfield Himalayan fühlen sich ehemalige XT- und SR-Fahrer und ähnlich frühgeprägte Biker an ihre Sturm-und- Drangzeit erinnert.

Doch der Reihe nach. Es wäre naheliegend gewesen, sich für die neue Einzylinder-Enduro einfach des sattsam bekannten 499-Kubik-Motor  zu bedienen. Aber das haben die Mannen in Indien mit der Himalayan eben nicht getan. Zum Einsatz kommt ein neu entwickeltes Aggregat mit 411 Kubikzentimetern Hubraum. Es bleibt – ganz im Sinne der Modellphilosophie – luftgekühlt. Selbst ein Choke ist noch am Lenker, wird für den langhubigen Einspritzer in unseren Breitengeraden aber nur im aller äußersten Notfall benötigt. Anders mag es da schon in der dünnen Höhenluft des Himalayas aussehen.

Heck - Royal Enfield Himalayan, Modell 2018 88 Kubikzentimeter weniger Hubraum als eine klassische Enfield? Ja, und auch was Leistung und Drehmoment angeht, haben die Uralt-Eisen aus Indien ihrer jüngeren Schwester rund drei PS und zehn Newtonmeter voraus. Doch bei einer Enduro geht’s ja naturgemäß nicht um Spitzenleistung (was einige Hersteller im Laufe der Jahre scheinbar ein wenig vergessen haben). Und bei einer Enfield schon einmal gar nicht. Nein, das Konzept der Himalayan liegt neben ihrer Kompetenz abseits geteerter Straßen in ihrer einfachen und damit auch einfach zu reparierenden Konstruktion – schließlich liegen nicht viele Motorradhändler und -werkstätten neben einer bergauf- oder bergabführenden Schotterpiste.

Es liegt im Auge des Betrachters, die Himalayan als hässliches Entlein oder als grundsolide gezeichnetes Adventure-Bike alter Schule zu sehen. Sie fällt auf jeden Fall auf und hat gleich zwei äußerst prägnante Kennzeichen. Da ist zum einen der hoch über dem vorderen Kotflügel thronende halbe Zusatzkotflügel an der unteren Gabelbrücke, dessen Sinn sich uns allerdings nicht erschließt, zum anderen ein auf den ersten Blick etwas eigenwillig wirkendes Konstrukt zwischen Tank und Scheinwerfer. Dort erstreckt sich ein „achteckiger“ Stahlrohrrahmen über die Silhouette und dient mehrfach als Träger: Zum einen als Lampenhalter, zum anderen für das Markenschild und last but not least mit vier Vorbohrungen als Aufnahme für das eine oder andere Fernreisezubehör. Das ist nicht die dümmste Idee, auch wenn es etwas eigenwillig aussieht. Außerdem schützt die ganze Konstruktion natürlich auch bei Umfallern.  

Links in Fahrt - Royal Enfield Himalayan, Modell 2018Apropos, eigenwillig aussehen. Pfiffig ausgedacht ist auch die Anbringung des Modellnamens. Über die gesamte Himalayan mit Ausnahme der Sitzbank erstreckt sich eine Art aufgeklebte Reifenspur. Das weckt gleich Assoziationen an abenteuerliche Tracks. Beim dritten Hinschauen entpuppt sich der vermeintliche Räderabdruck als „Himalayan“-Schriftzug in eigentümlicher Typografie. Er versteckt sich übrigens gleichermaßen hieroglyphisch auf dem Seitendeckel – in schwarzer Schrift auf schwarzem Untergrund. Hier hätte etwas Farbe durchaus nicht geschadet. Das gilt auch für die Auswahl an angebotenen Lackierungen mit den Himalaya-konformen Namen „Granite“ und „Snow White“. Gerade in dem dunkelgrauen Farbton wirkt die Royal Enfield doch schon sehr nüchtern.

Motor mit Kühler - Royal Enfield Himalayan, Modell 2018 Trotz 21-Zoll-Vorderrad und 22 Zentimetern Bodenfreiheit fällt die Sitzhöhe mit 800 Millimetern sehr moderat aus. Der Fahrer sitzt mehr in als auf der Maschine und ist nah am Schwerpunkt. Dennoch hat sich Royal Enfield bemüßigt gefühlt, noch ein Tie­fer­legungskit nachzulegen, das die Fuhre noch einmal 30 Millimeter absenkt. Vor allem weibliche Käufer sollen das nachgefragt haben – und zwar offensichtlich so viele, dass sich die Mühe lohnt. Das Sitzpolster jedenfalls ist so bequem wie es aussieht. Der typische Endurolenker liegt gut in der Hand und erfreut durch seinen weit gefassten Einschlagswinkel. Die Fußrasten sind leicht nach hinten versetzt, was auf langer Etappe kein Nachteil ist, im Gelände aber den Vorteil bietet, dass bei stehender Fahrt der Oberkörper automatisch leicht nach vorne geneigt ist und entsprechend Druck auf das Vorderrad bringt.

24,5 PS, 411 Kubikzentimeter und ein Zylinder: Da ist von vornherein klar, dass es hier eher rustikal als geschmeidig zugeht. Dabei wirkt die Enfield vom Dampf her fast schon wie eine echte 500er. Der fehlende Zehntel-Liter wird nur im Leerlauf spürbar, wenn der Motor entsprechend weniger voluminös klingt und mit leicht hohlem Klang vor sich hinpöttert. Sobald es aber vorwärts geht, ist der Sound stimmig. Das Aggregat, made in India, nimmt willig Gas an, während eine Ausgleichswelle wirkungsvoll die Vibrationen unterdrückt. Ab 2000 Touren stapft die Himalayan tapfer los, um ab 3000 Umdrehungen in der Minute in Schwung zu kommen. Da klettert die Nadel des Drehzahlmessers beim Beschleunigen im vierten und vorletzten Gang gerne auch mal auf die 6000er-Marke und die des Tachos auf die 100.  Bis etwa 110 km/h und 5500 U/min steht der Einzylinder dann auch im fünften Gang noch ganz gut unter Dampf, ehe dem Langhuber dann naturgemäß etwas die Puste ausgeht. 

Cockpit - Royal Enfield Himalayan, Modell 2018 Die Top Speed geben die Mannen in Chennai mit 127 km/h an. Nicht vergessen, auf deutschen Landstraßen gilt immer noch Tempo 100. Und für den Lkw auf der Autobahn reicht das Aggregat auch allemal, obwohl das Hauptrevier der Royal Enfield natürlich nicht die ellenlange Betonpiste ist. 

Auf der Landstraße zirkelt die Himalayan hingegen spielerisch leicht durch enges Kurvengeläuf. Die Dual-Purpose-Pneus von Pirelli (hinten 17 Zoll) sind auf Asphalt nicht so hundertpro die Top-Performer, spielen ihre Stärke aber dafür umso mehr auf Schotter, Feldwegen und anderem Untergrund aus. Dort lässt sich die Maschine erstaunlich flott und spurtreu durch Wald und über Flur treiben. Vorne wirkt die Bremse mit ihrer einen 300 Millimetern Scheibe leider etwas lasch, dafür überzeugt die Hintere umso mehr. Sie spricht wunderbar früh an und lässt sich zudem feinfühlig dosieren. Die Kupplung benötigt hingegen ein wenig Kraft.

Tankanzeige und Kompass - Royal Enfield Himalayan, Modell 2018 Während vorne links der Ölkühler vor dem Motor namens LS 410 thront, sitzt rechts eine klassische Chromhupe, wie man sie ansonsten heute fast nur noch bei den Zubehörmultis bekommt. Lediglich die eckigen Plastikblinker wollen nicht so ganz in das ansonsten stimmige Bild passen. 

Die Inderin glänzt mit ordentlicher Ausstattung. Weder Gepäckbrücke noch Hauptständer oder der Motorschutz müssen extra geordert werden. Auch die ausreichend hohe Scheibe ist bereits ab Werk montiert.

Erste Wahl im Zubehörangebot sind die als Toplader ausgeführten und an unserer Probefahrtmaschine bereits montierten Alu-Seitenkoffer mit „Royal Enfield“-Prägung. Sie fassen 26 Liter pro Seite und kosten inklusive Träger zwischen 600 und 700 Euro. 

Royal Enfield Himalayan, Modell 2018 Ein umfangreiches Uhrenspiel bietet das Cockpit. Die klassischen Anzeigen arbeiten analog in konventionellen Rundinstrumenten, wobei der Drehzahlmesser relativ klein ausfällt – aber größer muss er auch nicht sein. Selbst die Tankanzeige setzt noch nach Altvätersitte auf einen Zeiger. Der Bordcomputer ist natürlich digital, besitzt zwei Tripmaster und informiert unter anderem über Uhrzeit, ausgefahrenen Seitenständer, Gangstufe und die Durchschnittsgeschwindigkeit für die Strecken A und B. Leichte Irritationen kann allerdings die Temperaturanzeige auslösen. Zugegeben, wir hatten einen heißen, einen richtig heißen Sommer. Die 43 Grad, die uns die Himalayan vormittags anzeigte, als wir sie bei Hanmoto in Hannover abholten, waren dann allerdings doch etwas übertrieben. Hier wird – warum auch immer – die Temperatur kurz nach dem  Ansaugkrümmer abgegriffen.

Ach ja, und dann wäre da noch unten rechts ein besonderes Gimmick im Instrumentarium: ein Kompass. Er arbeitet ebenfalls digital und gibt mit einem Pfeil und den gängigen Buchstaben auf Englisch die Himmelsrichtung an. Himalayan eben. Dazu passt auch der angenehm weite Lenkeinschlag der Inderin. Der Tank hätte für unseren Geschmack zwar ruhig noch etwas üppiger ausfallen können, ist aber immerhin so groß und so konzipiert, dass der gute alte Harro Elefanten Boy wieder aus dem Keller geholt und zu Ehren kommen kann. Die 15 Liter Benzin versprechen bei einem angegebenen Normverbrauch von rund dreieinhalb Litern aber ausreichend Reichweite.    

Keine Frage, die Himalayan ist eine handliche Einsteiger-Enduro, ein Motorrad für Leistungsverweigerer, für Entschleuniger, die einfach nur gemütlich durch die Gegend fahren möchten und für alle, die sich im Alltag mit einem Hauch Abenteuernimbus umgeben wollen. Und mancher geht mit ihr sicher gerne auch auf Reisen – es muss ja nicht gleich bis zum Himalaya sein. 

Egal, zu welcher Gruppe man sich zählt und welche Ziele man mit der Enfield-Enduro verfolgt, die Entscheidung macht einem nicht nur das Motorrad an sich leicht. Mit 4690 Euro all-inklusice darf die Himalayan nicht nur als preislich äußerst attraktiv gelten, sondern als echtes Schnäppchen. Da wundert es nicht, dass laut Importeur KSR aus Österreich, Royal Enfield aktuell als die am stärksten wachsende Motorradmarke weltweit gelten darf. Der neue Enfield-Zweizylinder kommt auch bald im Handel an, evtl. irgendwann ja auch mal als Himalayan …