aus Kradblatt 7/20 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Unfall nach dem Abbiegen

Vorfahrtsregeln und deren Verletzungen beschäftigen Juristen immer wieder. Das Landgericht Hamburg hatte unlängst über einen solchen Fall zu entscheiden. Dabei kam die sogenannte 31-Meter-Regel ins Spiel. Auch wenn das Urteil nicht motorradspezifisch ist, sollte es doch von Interesse sein.

Der Kläger fuhr mit seinem Fahrzeug auf einer Straße und beabsichtigte in eine andere Straße abzubiegen. An der Einmündung in diese andere Straße befand sich ein Verkehrszeichen, das „Vorfahrt gewähren“ gebot (Verkehrszeichen 205 der Anlage 2 zu § 41 Absatz 1 Straßenverkehrsordnung). Auf der vorfahrtsberechtigten Straße fuhr die Beklagte – für den Kläger von links kommend. Es kam zur Kollision der beiden Fahrzeuge im Bereich der Einmündung. Der Kläger gab an, er habe von links kein Fahrzeug sich nähern sehen, da ein stehendes Fahrzeug die Sicht versperrt habe. Er sei dann nach rechts abgebogen und habe sich schon kerzengerade auf der vorfahrtsberechtigten Straße befunden, als er von links einen starken Aufprall erfuhr. Die Beklagte habe vermutlich das sichtbehindernde Fahrzeug überholt, habe dann nach rechts gelenkt und sei dabei mit dem Pkw des Klägers kollidiert. Der Kläger behauptete zudem, die Beklagte sei offensichtlich viel zu schnell gefahren. Die Beklagte sagte hingegen aus, sie sei unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unterwegs gewesen. Sie habe vor der Kollision kein Fahrzeug überholt und sei auch an keinem haltenden Fahrzeug vorbeigefahren. Es sei vielmehr so gewesen, dass der Kläger mit seinem Pkw unmittelbar vor ihr aus der untergeordneten Straße kommend auf die vorfahrtsberechtigte Hauptstraße abgebogen sei. Zwar habe sie noch versucht, nach links auszuweichen, die Kollision habe aber nicht mehr verhindert werden können. Der Kläger verlangte von der Beklagten Schadensersatz in voller Höhe.

Das Landgericht Hamburg wies jedoch in seinem Urteil vom 16.08.2019 (Aktenzeichen: 306 O 30/19) die Klage vollumfänglich ab. Der Unfall habe sich in einem unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Abbiegen des Klägers auf die von der Beklagten befahrene vorfahrtsberechtigte Hauptstraße ereignet. Daher spreche der Anschein dafür, dass der Kläger nicht die erforderliche Sorgfalt beachtet und einen Verstoß gegen § 8 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 Straßenverkehrsordnung begangen hat. Die genannte Vorschrift besagt, dass die in Satz 1 genannte Regel, dass an Kreuzungen und Einmündungen Vorfahrt hat, wer von rechts kommt, nicht gilt, wenn die Vorfahrt durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist. Dieser Vorfahrtsverstoß ist derart gewichtig, dass die allgemeine Betriebsgefahr des Pkw der Beklagten dahinter völlig zurücktrete. Der Kläger habe vor der Kollision mit seinem Fahrzeug keine Strecke von mehr als 30 Metern auf der Hauptstraße gefahren. Die Beklagte habe dagegen keinen nachweisbaren Verkehrsverstoß begangen. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung sei nicht festzustellen gewesen. Ebenso sei es nicht zu beweisen gewesen, dass die Beklagte vor der Kollision ein Fahrzeug überholt habe oder an einem parkenden Fahrzeug vorbeigefahren sei. Dass sich überhaupt ein haltendes bzw. parkendes Fahrzeug auf der Fahrbahn befunden habe, stünde nicht fest. Ein solcher Überholvorgang durch die Beklagte hätte ihre Vorfahrtsberechtigung ohnehin nicht entfallen lassen. Daher hatte der Kläger für den ihm entstandenen Schaden allein zu haften.

Was hat es nun aber mit der 31-Meter-Regel auf sich? Nach der vor allem in Hamburg gebräuchlichen Rechtsprechung ist ein in den fließenden Verkehr einfahrendes oder in eine vorfahrtsberechtigte Straße abbiegendes Kraftfahrzeug erst dann Teil des Verkehrs, wenn es die dort gefahrene Grundgeschwindigkeit erreicht hat und die anderen Verkehrsteilnehmer auf das Auffahren auf die Straße unfallvermeidend reagieren könnten. Dies soll gegeben sein, wenn das Fahrzeug auf der Straße, in die eingefahren oder abgebogen wird, bereits 31 Meter zurückgelegt hat. Diese Rechtsprechung wird immer wieder angewandt. Zu nennen sind etwa ein Urteil des LG Hamburg vom 01.10.2014 (AZ: 331 O 76/14) oder ein Urteil des AG Hamburg-Bergedorf vom 15.09.2015 (AZ: 408 C 258/14). Wenn der Einbiegende zum Unfallzeitpunkt noch keine 31 Meter auf der Vorfahrtsstraße zurückgelegt hatte, wird vermutet, dass er noch nicht die geltende Grundgeschwindigkeit erreicht hatte. Er gilt deshalb als Verursacher des Auffahrunfalls. Vor Erreichen der Wegstrecke von 31 Metern und damit regelmäßig der geltenden Geschwindigkeit befindet sich der Wartepflichtige (Einfahrender bzw. Abbiegender) noch nicht ununterscheidbar im Fließverkehr der bevorrechtigten Straße.

Im vorliegenden Fall hatte der Kläger mit seinem Pkw unstreitig noch keine 30 Meter auf der vorfahrtsberechtigten Straße zurückgelegt, da der Unfall im unmittelbaren Bereich der Einmündung stattfand. Ihn traf daher zu Recht die Alleinhaftung.

Die 31-Meter-Regel ist soweit ersichtlich eine hamburgische „Spezialität“, da von Gerichten aus anderen Bundesländern keine Entscheidungen in dieser Richtung bekannt sind. Sie vermittelt etwas Rechtssicherheit in einem sehr umstrittenen Aspekt bei der Frage der Vorfahrtsgewährung. Selbstverständlich hat sie auch Schwächen. Es wird etwa nicht immer ganz eindeutig sein, wie weit der nicht Vorfahrtsberechtigte auf der Straße schon gefahren war und welche Geschwindigkeit er schon erreicht haben konnte. Als eine Art Faustregel kann sie aber grundsätzlich hilfreich sein. Im Einzelfall dürfte sie indes durchaus zu widerlegen sein, z.B. indem nachgewiesen wird, dass das Fahrzeug des Wartepflichtigen eine wesentliche höhere Beschleunigung hat und deutlich rascher auf die Grundgeschwindigkeit des Fließverkehrs gekommen ist.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Wer in eine vorfahrtsberechtigte Straße einfährt oder abbiegt, hat den fließenden Verkehr zu beachten. Wenn es schon nach wenigen Metern „kracht“, spricht der Anschein dafür, dass der Wartepflichtige schuldig ist. Gibt es dann keine besonderen Umstände wie beispielsweise eine beweisbare Geschwindigkeitsüberschreitung des Vorfahrtsberechtigten, haftet der die Vorfahrt Missachtende allein.