aus Kradblatt 4/24 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Vorsicht in Einbahnstraßen

Die meisten von uns dürfte das Thema in erster Linie als passiv Betroffene, also als Geschädigte durch einen Verkehrsunfall angehen. Die Frage, ob ein Rückwärtsfahren in einer Einbahnstraße entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung verboten ist, ist beim Motorrad weitestgehend unbedeutend, da der Großteil der Maschinen über keinen Rückwärtsgang verfügt. In einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10.10.2023 (Aktenzeichen: VI ZR 287/22) wird diese Fragestellung für Pkw aber aufgeworfen.

Der Kläger war unter Missachtung des fließenden Verkehrs rückwärts aus einer Einfahrt auf eine vorfahrtsberechtigte Einbahnstraße gefahren und mit dem Fahrzeug der Beklagten kollidiert, die ihrerseits vor der Kollision unzulässig rückwärts gefahren war, um einen anderen Pkw aus einer dann für sie frei werdenden Parklücke ausfahren zu lassen. 

Vorgerichtlich hatte die Krafthaftpflichtversicherung der Beklagten die Schäden des Klägers mit einer Haftungsquote von 40 Prozent reguliert, der Kläger begehrte aber auch die restlichen 60 Prozent. 

Das Amtsgericht hatte seiner Klage stattgegeben, das Landgericht wies die Klage auf die Berufung der Beklagten ab. Der Bundesgerichtshof hob wiederum diese Entscheidung auf die Revision des Klägers auf und wies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurück.

Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge hätte berücksichtigt werden müssen, dass die Beklagte die Einbahnstraße in unzulässiger Weise rückwärts befuhr und damit gegen das Gebot des Befahrens der Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung verstoßen hatte. 

Grundsätzlich steht die Fahrbahn dem in Gegenrichtung fahrenden Fahrzeugverkehr nicht zur Verfügung. Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Nur ein Rückwärtseinparken in Gestalt von Rangieren ist ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Einbahnstraßen. Rückwärtsfahren ist auch dann unzulässig, wenn es dazu dient, erst zu einer freien oder frei werdenden Parklücke zu gelangen oder dem Ausfahrenden aus einer Parklücke das Ausparken zu ermöglichen, um anschließend selbst dort parken zu können. Es war daher ein Verstoß der Beklagten gegeben. 

Gerügt wurde zudem eine fehlerhafte Anwendung des Anscheinsbeweises. Bei einem Beweis des ersten Anscheins gilt bei einem „typischen Geschehen“, der Ablauf als erwiesen, wenn dieser Anschein nicht erschüttert werden kann. Der Anscheinsbeweis setzt aber voraus, dass es sich um einen Sachverhalt handelt, für den nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Sind besondere Umstände bekannt, die gegen diese Typizität sprechen, ist der Anscheinsbeweis nicht anwendbar. Danach konnte dem Kläger im vorliegenden Fall kein schuldhafter Verstoß aufgrund des Anscheinsbeweises vorgeworfen werden. Da die Beklagte in unzulässiger Weise die Einbahnstraße rückwärts befahren hatte, konnte dem Kläger kein Verschulden durch Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück in eine Straße zugesprochen werden, weil die besonderen Umstände dieses Falls jedem Erfahrungssatz widersprachen. Der Beweis des ersten Anscheins griff danach nicht.

Der Bundesgerichtshof gab dem Berufungsgericht für die Neuentscheidung zu  berücksichtigen auf, dass der Kläger grundsätzlich nicht mit Teilnehmern des fließenden Verkehrs auf der Einbahnstraße rechnen musste, die diese in unzulässiger Richtung nutzten.

Damit ist geklärt, dass ein Fahren entgegen der Fahrtrichtung in einer Einbahnstraße auch bei einem Rückwärtsfahren verboten ist. Kommt es zu einem Zusammenstoß unter derartigen Umständen, ist der Rückwärtsfahrende in erheblichem Maße mit- oder gar alleinschuldig, selbst wenn der andere Verkehrsteilnehmer aus einer Ausfahrt in die Straße einfährt. Wenn uns also jemand in einer Einbahnstraße entgegen der Fahrtrichtung rückwärts in das Bike fährt, trifft diesen zumeist wenigstens der „Löwenanteil“ des Verschuldens. 

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