aus Kradblatt 1/21 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Ab wann ist ein Fahrzeug „gebraucht“ …

Wohl jeder, der mit seinem Motorrad unverschuldet verunfallt, ist über den entstandenen Schaden unglücklich. Dies gilt um so mehr, wenn die Maschine erst vor kurzer Zeit gekauft worden und dementsprechend noch wenig gefahren worden ist. 

Nach einem Verkehrsunfall hat sich ein Geschädigter in Bezug auf seinen Schaden grundsätzlich wirtschaftlich vernünftig zu verhalten. Er kann nicht Reparaturkosten geltend machen, die den Wert für die Anschaffung eines gleichwertigen Ersatzfahrzeugs weit übersteigen (was vor allem bei „Liebhaberstücken“ sehr ärgerlich sein kann). Umgekehrt darf er nicht auf Kosten des Unfallverursachers ein neues Motorrad kaufen, wenn die Kosten für eine Reparatur erheblich unter dem Kaufpreis liegen. Eine bedeutende Ausnahme von diesen Grundsätzen gilt bei der sogenannten Neuwertentschädigung.

Der Eigentümer eines Neufahrzeugs muss sich im Falle von dessen Beschädigung nicht immer mit der Erstattung der erforderlichen Reparaturkosten zuzüglich einer Wertminderung (als Ausgleich dafür, dass der Marktwert eines Reparaturfahrzeugs trotz fachgerechter Reparatur in aller Regel niedriger ist als der eines Fahrzeugs ohne Unfall) begnügen, sondern kann unter Umständen berechtigt sein, Ersatz der höheren Kosten für die Beschaffung eines gleichwertigen Ersatzfahrzeugs zu verlangen. 

Die Rechtsprechung (z. B. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 09.06.2009, Aktenzeichen: VI ZR 110/08) macht eine Ausnahme von dem oben genannten Wirtschaftlichkeitsgebot bzw. schränkt dieses ein. 

Wird ein fabrikneues Fahrzeug durch einen Unfall erheblich beschädigt, sodass es selbst nach einer fachgerechten Reparatur nicht mehr als neuwertig angesehen werden kann, kann der Geschädigte die im Vergleich zum Reparaturaufwand höheren Kosten für die Beschaffung eines Neufahrzeugs beanspruchen. 

Neuwert hat im Schadensrecht eine derart große Bedeutung, dass es dem Geschädigten in einer solchen Situation nicht zuzumuten ist, sich mit der Reparatur des Fahrzeugs und einer zusätzlichen Zahlung der Wertminderung zu begnügen. Er hat ein besonderes Interesse an der Nutzung eines Neufahrzeugs, sodass ihm ausnahmsweise die im Vergleich zur Reparatur teurere Neuanschaffung zusteht. Dies rechtfertigt sich dadurch, dass ein repariertes Fahrzeug selbst, unter Hinzuzahlung einer Wertminderung nicht dieselbe Wertschätzung genießt wie ein neuwertiges unfallfreies Fahrzeug. 

Als Faustregel für den Begriff „fabrikneu“ hat die Rechtsprechung festgelegt, dass das Fahrzeug eine Fahrleistung von nicht mehr als 1.000 km hat. Die Ausnahme gilt zudem nur bei erheblicher Beschädigung, wobei sich der Begriff „erheblich“ nicht in erster Linie nach der Schwere des Unfallschadens bemisst, sondern nach dem Zustand, in dem sich das Fahrzeug nach der Reparatur befinden würde. Sind etwa nur Fahrzeugteile betroffen, die „spurenlos“ ausgewechselt werden können, liegt keine erhebliche Beschädigung vor. Prinzipiell wird eine erhebliche Beschädigung angenommen, wenn bei dem Unfall tragende oder sicherheitsrelevante Teile beschädigt wurden, wofür meistens Richt- und Schweißarbeiten anfallen. Allerdings kommt bei Vorliegen aller Voraussetzungen der Anspruch des Geschädigten auf Abrechnung auf Neufahrzeugbasis nur dann in Betracht, wenn er ein gleichwertiges Ersatzfahrzeug erworben hat. Kauft sich der Geschädigte längerfristig erst mal kein fabrikneues Ersatzfahrzeug, hat er keinen Anspruch auf die Neupreisentschädigung, wie der Bundesgerichtshof klarstellt. Die Neuwertentschädigung gilt nicht nur für vier-, sondern natürlich auch für unsere zweirädrigen Motorfahrzeuge. 

Das Landgericht Detmold hat mit Urteil vom 20.10.2010 (Aktenzeichen: 12 O 172/09) einen solchen Fall entschieden. Der Motorradfahrer hatte auf einer Straße, die an einem Sportplatzgelände vorbeiführt, wegen eines über den 2 Meter hohen Zaun (oder durch ein Loch in diesem Zaun) geflogenen Fußballs die Kontrolle über seine Maschine verloren und war schwer gestürzt. Der Verunfallte klagte, überwiegend erfolgreich, gegen den den Platz betreibenden Sportverein wegen schuldhafter Verletzung der Verkehrssicherungspflichten. Das verunfallte Krad war erst am Unfalltag erstmals zugelassen worden und hatte eine Fahrleistung von 141 km. Obwohl der Reparaturaufwand bei knapp einem Drittel des Wiederbeschaffungswertes lag, war der Motorradfahrer berechtigt, eine gleichwertige neue Maschine auf Kosten des Schädigers zu kaufen.

In einer jüngeren Entscheidung hat das Amtsgericht Lippstadt (Urteil vom 20.04.2020, Aktenzeichen: 3 C 115/19) ausgesprochen, dass es für die Neuwertentschädigung nicht nachteilig ist, wenn der Geschädigte erst die Haftungsklärung abwartet (im vorliegenden Fall nach vier Wochen) und das Ersatzfahrzeug erst drei Monate später geliefert wird. Die Versicherung des Unfallverursachers hatte aus der Zeit zwischen Unfall und Zulassung des Neufahrzeugs von fast vier Monaten schließen wollen, dass das Ersatzfahrzeug gar keinen Ersatz für das verunfallte Gefährt darstellen solle. Das sah das Amtsgericht Lippstadt anders. Ebenso ließ das Gericht die Auffassung des Versicherers abblitzen, es hätte kein erheblicher Schaden vorgelegen. Angesichts des Umstands, dass für eine Reparatur des Fahrzeugs ein Karosserieteil herausgeschnitten und ein neues Teil hätte eingeschweißt werden müssen, durchaus verständlich.

Die Neuwertentschädigung ist danach ein praktisches Instrument für Fälle, in denen ärgerlicherweise kurz nach Erwerb eines Fahrzeugs ein unverschuldeter Unfall passiert, noch bevor man sich damit „anfreunden“ konnte. Es hilft dem Unglücklichen, der sein Fortbewegungsmittel gerade erst erstanden hat. Unter Beachtung der Voraussetzungen (Fahrzeug noch unter 1.000 km gelaufen, erhebliche Beschädigung, in der Regel nicht älter als einen Monat) kann er sich ein neues Fahrzeug anschaffen, statt langwierig und tatsächlich wertmindernd reparieren zu lassen.

Selbstverständlich ist es aber trotz der Neuwertentschädigung am besten, gar keinen Unfall mit seinem Motorrad zu erleben.