aus bma 11/03

von Konstantin Winkler

An der FähreNachdem die baltischen Staaten im Jahre 1991 durch die Loslösung von der Sowjetunion für kurze Zeit in die Schlagzeilen gerieten, ist es um diese Länder bis auf die EU-Erweiterung wieder ruhiger geworden. Eine Reise ins Baltikum stellt aber immer noch eine Expedition in ein Stück unbekanntes Europa dar.
Bei frischen und stürmischen vier Grad ging es Mitte April mit meiner BMW K 75 in Geesthacht los. Wir fuhren über die A 24 und A 19 nach Rostock dann weiter auf der total verstopften B 105 nach Stralsund und über den Rügendamm auf Deutschlands größte Insel. Nach 400 Tageskilometern erreichten wir den Fährhafen Saßnitz. Am Terminal 3 erblickten wir dann die ersten Schilder, die Fernweh hervorriefen: Klaipeda, Litauen und St. Petersburg.
Unser Schiff war die 190 Meter lange und 11.700 Tonnen schwere „Klaipeda”, die größte Eisenbahnfähre der Welt mit fünf nebeneinander liegenden Schienenpaaren. Das bedeutet Platz für einen fast ein Kilometer langen Güterzug. Jedoch ragen die Gleise aus dem Schiffsboden heraus und laufen teilweise gefährlich schräg zur Fahrbahn. So kam es, dass ich zum ersten Mal mein Motorrad auf eine Fähre geschoben habe. Auch die litauische Crew schien nicht auf Motorrad-Touristen vorbereitet zu sein. Zuerst bekam ich einen Platz in der Gitterbox für Fahrräder, dann zwei schmale Gürtel zum Festzurren. Zum Glück hatte ich meine eigenen Spannbänder mit im Tankrucksack und improvisierte mit den riesigen Ketten, die eigentlich für die Eisenbahnwaggons gedacht waren. Das Personal lachte nur über meine Vorsichtsmaßnahmen. Bei angekündigten Winden der Stärke 5 werde sich das Schiff überhaupt nicht aus der Ruhe bringen lassen. So war es dann auch.

 

NemunasPünktlich um 11 Uhr erreichten wir am nächsten Morgen nach 19-stündiger Überfahrt Klaipeda, wie das ehemals ostpreußische Memel jetzt heißt. Völlig problemlos gestaltete sich die inzwischen visafreie Einreise nach Litauen.
Der erste Eindruck war allerdings deprimierend. Ein riesiger schmutziger Hafen mit maroden Docks, verfallenen Industrieanlagen und plattenbauartige, schmucklose Hochhaussiedlungen. Die Straßen bestanden teilweise aus Kopfsteinpflaster und hoch stehenden Eisenbahnschienen, die das Motorradfahren zu einer Handlingprüfung aller erster Güte machten. Im überraschenden Kontrast stand dazu die erste Tankstelle! Es war eine hoch moderne STATOIL-Station mit riesigem Shop und ebensolcher Auswahl. Der Liter bleifreies Superbenzin kostete etwa 63 Cent.
Mit einer kleinen Fähre setzten wir auf die Kurische Nehrung über, die das Kurische Haff von der Ostsee trennt. Das Haff ist ein nur drei Meter tiefes Binnenmeer, das von der Memel (jetzt: Nemunas) gespeist wird. Nach ein paar Kilometern hielten wir vor einem Schlagbaum. Nachdem wir sieben Litas zum Erhalt der Natur gezahlt hatten ging es bergauf und -ab durch dichte Wälder. Vor lauter Bäumen ist vom Wasser aber genauso wenig zu sehen wie von den bis zu 60 Meter hohen Wanderdünen, denen die Nehrung auch den Beinamen „Litauische Sahara” verdankt. Erst nach einem schweißtreibenden Fußmarsch auf eine Anhöhe von einem der vielen Parkplätze aus erschloss sich uns eine atemberaubende Mischung aus Wasser, Wald, Sand und Heide.
Unsere Fahrt endete nach 50 Kilometern an der russischen Staatsgrenze, wo ein Weiterkommen ohne Visum leider unmöglich war. Also kehrten wir um und besuchten das idyllische Fischer- und Künstlerdorf Nida, das vor dem Zweiten Weltkrieg Nidden hieß und zu Ostpreußen gehörte. Thomas Mann ließ sich 1930 dort ein Sommerhaus bauen. Hübsche bunte Holzhäuser, eine neue Strandpromenade und herrlich weißer Strand erinnerten uns mehr an Skandinavien als an Russland. In Nida begegnete ich auch zum ersten Mal einem einheimischen Motorradfahrer. Sein Ural-Gepann stammte samt Nummernschild noch aus der Zeit, als Litauen zu Russland gehörte.
MIGÜber Juodkrante (Schwarzort) und Smiltyne (Sandkrug) ging es mit der Fähre zurück nach Klaipeda. Von dort führte uns die Autobahn, die fast westeuropäische Maßstäbe erreicht, nach Kaunas. Allerdings musste man mit Fußgängern rechnen, die die Fahrbahn überqueren. Außerdem kann man auf litauischen Autobahnen links (!) abbiegen. Nach 50 Kilometern mit erlaubtem Tempo 110 bezogen wir wegen des schlechter werdenden Wetters Quartier in einem kleinen Hotel mit Garage für das Motorrad und gutem Zimmerkomfort. Am Morgen erwachten wir bei vier Grad und Nieselregen, dafür war ein reichaltiges Frühstück mit Schinken-omelett im Übernachtungspreis von umgerechnet 15 Euro enthalten.
Nach ein paar Kilometern verließen wir die Autobahn und fuhren über Nebenstrecken Richtung Memel. Die schmalen Straßen forderten dank Wellblechpiste und zahlreichen Schlaglöchern eine abenteuerliche Fahrweise. Wälder, Felder und Wiesen begleiteten uns. Die traditionellen Holzhäuser in den Dörfern leuchteten in allen Farben und waren teilweise liebevoll verziert. In den Gärten liefen Schafe und Ziegen herum und es wurde Gemüse zum Verkauf angeboten. Die Zeit schien hier seit Jahrzehnten still zu stehen. Pferdefuhrwerke dienten als allgemein übliches Transportmittel. Andererseits war das Mobilfunknetz erstklassig ausgebaut: In der Lüneburger Heide hatte ich größere Schwierigkeiten, mit meinem Handy zu telefonieren!
Meine wassergekühlte BMW war für viele Menschen in Litauen eine echte Attraktion. Immer wieder zeigten die Daumen der Passanten und Autofahrer nach oben. Mit Handbewegungen forderten sie mich immer wieder auf, ordentlich Gas zu geben.
Über Sakiai und Griskabudis erreichten wir Marijampole, die letzte größere Stadt in Litauen. Eine Schlange von sage und schreibe 150 Lkw kündigte schon von weitem die polnische Grenze an. Während die litauische Grenzabfertigung zügig vonstatten ging, ging es auf polnischer Seite nur schleppend vorwärts. Für die Zollbeamten schien es eine Dienstvorschrift zu geben, die besagte, dass Wartezeiten von 30 Minuten keineswegs unterschritten werden dürfen.
Polen überaschte uns mit kurvigen und gut ausgebauten Straßen. Während Großstädte wie Suwalki oder Augustow von Autos sowie stinkenden Bussen und Lastwagen regelrecht überflutet waren, ging es ein paar Kilometer weiter westlich beschaulicher zu. Wir hatten Masuren erreicht, das Land der 1.000 Seen. Das Land ist flach und dünn besiedelt, die Menschen leben von der Landwirtschaft und dem Tourismus. Flora und Fauna waren wunderschön. Vor allem Störchen begegneten wir immer wieder und schauten ihnen bei ihren Start- und Landemanövern zu. Bei Sonnenuntergang legte sich eine gewisse Melancholie über die Landschaft, in der die Zeit seit 50 Jahren still zu stehen schien. Dennoch mangelte es nicht an vornehmen Quartieren und gutem Essen.
Die Straße von Orzysz nach Gizycko ließ unsere Bikerherzen höher schlagen: Eine schmale, kurvenreiche Straße schlängelte sich durch Wälder und an vielen kleinen Seen vorbei. Versteckt in der hügeligen Landschaft liegt Mragowo, das wir nach fast zehnstündiger 400-Kilometer-Tagesetappe erreichten. Hier im Norden Polens stießen wir häufig auf Spuren der unrühmlichen Vergangenheit. Viele Ortschaften sind zweisprachig (Polnisch/Deutsch) ausgeschildert. Mragowo hieß früher Sensburg und Swieta Lipka Heilige Linde. Nicht nur Hitler und Stalin teilten sich Polen vor dem Krieg, auch nach 1945 wurde eine halbe Million Ostpreußen umgesiedelt. Im Zuge der auf der Potsdamer Konferenz beschlossenen Teilung Ostpreußens fiel der nördliche Teil mit Königsberg der früheren Sowjetunion zu, während der südliche Teil mit Masuren an Polen ging.
PanzerBei Ketrzyn (ehemals Rastenburg) befindet sich die Wolfsschanze. Mitten im Wald, zwischen hohen Bäumen gut getarnt, liegt Hitlers ehemaliger Kommandobunker. In dieser grauen Festung, die man für ein paar Zloty Eintrittsgeld besichtigen konnte, scheiterte das Bombenattentat von Graf Stauffenberg am 20. Juli 1944.
Bei kühlen aber trockenen vier Grad starteten wir zu unseren vorletzten Etappe. Der Verkehr wurde dichter, bis er in Olsztyn schließlich unerträglich wurde. Das ehemalige Allenstein bot nicht nur unendlich viele Plattenbauten und Industrie, sondern auch eine Ordensburg mit charakteristischem Rundturm aus dem 14. Jahrhundert. Der wuchtige Backsteinbau beherbergt ein Masuren-Museum. Auch der mittelalterliche Marktplatz ist sehenswert.
Bei Grudziadz, einer schmucklosen 100.000-Einwohner Industriestadt, überquerten wir die Wisla (Weichsel). Auch hier war der Verkehr leider wieder unerträglich. Wer Ruhe und Beschaulichkeit sucht, der muss Polen abseits der bekannten Pfade erkunden. So machten wir auch einen großen Bogen um Bydgoszcz (Bomberg) und fuhren über Tuchola und Chojnice Richtung Pojezierze Drawskie – Pommersche Seenplatte. Wälder und Seen charakterisieren die touristisch noch bislang wenig erschlossene Gegend. In Miroslawiec, dem ehemaligen Märkischen Friesland, suchten wir ein Hotel mit Garage auf, nachdem wir erneut knapp zehn Stunden lang und 400 Kilometer weit gefahren waren.
Von Miroslawiec waren es nur noch 120 Kilometer zur deutschen Grenze. Nicht nur die Zahl der Lkw und Pkw mit Überführungskennzeichen nahm zu, sondern auch die Menge der mehr oder minder jungen handtaschenschwingenden Damen am Straßenrand. Kurz und schmerzlos reisten wir auf polnischer Seite wieder aus. Dienstbeflissener zeigten sich diesmal die deutschen Zollbeamten, die Alkohol und Zigaretten in den Seitenkoffern der BMW vermuteten. Über Mecklenburg-Vorpommern erreichten wir dann schließlich wieder Geesthacht.
Der Trip hat sich auf jeden Fall gelohnt. Probleme gab es weder mit der Lebensmittel- noch der Benzinversorgung. Geklaut wurde uns übrigens auch nichts. Die K 75 lief wie immer zuverlässig und sparsam (4 bis 5 Liter/100 km). Auf jeden Fall werde ich in den nächsten Jahren auch die anderen beiden baltischen Staaten Lettland und Estland ansteuern. Und natürlich die russische Förderation.