aus bma 01/04

von Thomas Schaefer

Thomas Schaefer am Geiranger FjordEndlich öffnet sich die Bugklappe gegen 9.00 Uhr an einem Montagmorgen Anfang Mai. Endlich also frische Luft, die in das Autodeck der Oslo-Fähre dringt, zwischen die in mehreren Reihen vor sich hindieselden Kühllaster. Aber nicht nur frische Luft kommt herein: fast schmerzhaft grell dringt auch das klare Blau eines wolkenlosen Himmels in das Schiffsinnere. Und ich – startklar auf meiner BMW R 1100 R sitzend – sehe unter diesem wolkenlosen Himmel die Häuser Oslos, wie sie vom Fjord die Berghänge hinaufgleiten, Berghänge manchmal so schroff, dass sie eher nach Afrika passen würden.
Fast körperlich ist es zu spüren: vor mir liegen 2.500 km Norwegen, der Länge nach ausgebreitet, kaum enden wollend, schmal und feingliedrig, bergig und kurvig ohne Ende. So lege ich den ersten Gang ein und fahre – als erster natürlich – vom Schiff hinunter und hinein in dieses Norwegen!

 

Und sofort hinein in den Osloer Berufsverkehr mit Hochstraßen, Tunnels, Einbahnstraßen und Kreisverkehren; kein norwegischer Motorradfahrer fährt grußlos an mir vorbei, sogar Motorradpolizisten grüßen mich. Und dann rolle ich die steile Ausfallstraße nach Norden hinauf, die bald zur Autobahn wird und an großstädtischen Siedlungen entlangführt.
Eigentlich bin ich nur auf dem Weg nach Bergen, um dort am kommenden Freitag an einem Erbrechts-Seminar teilzunehmen. Diesen Anlass aber wollte ich für einen Vorstoß in den skandinavischen Norden nutzen, wie er mir bis dahin noch nie gelungen war: Trondheim sollte morgen das Etappenziel werden, um von dort aus binnen drei Tagen über die Fjorde des Westlandes Bergen zu erreichen.
Eine Stunde hinter Oslo, auf der Reichsstraße 4 nach Gjövik, das erste Schild seiner Art: „särlig stor elgfare”, also „besonders große Gefahr von Elchen”. Begegnet ist mir keiner in diesem friedlichen Tal, über deren Hänge die Bauernhöfe verstreut liegen, rotgemalt die Stallungen und weißgemalt die Wohnhäuser.
Norwegen Anfang Mai, das bedeutet die Sonne steht hoch am Himmel und sticht auf eine noch wintergraue Natur herunter.
Vor Gjövik sind erste Mittelgebirge zu überwinden, die Straße windet sich hinauf und hinunter und an Seen vorbei – glänzen diese nicht silbern? In der Tat die Seen sind noch mit Eis bedeckt, dieses zwar brüchig und von der Sonne sichtlich angefressen, aber still und starr ruhen die Seen noch immer!
Die ersten Gebirgsbuckel lassen mich zudem erkennen, worauf ich auf norwegischen Straßen immer werde achten müssen. Hatte ich die Straßen als Autofahrer in guter Erinnerung, so sehe ich sie als Motorradfahrer nun etwas anders. Natürlich sind sie schlaglochfrei und der Belag ist angenehm grobkörnig. Aber in der Mitte einer jeden der beiden Fahrbahnen befindet sich eine Asphaltnaht, die nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar ist. Zu keiner Sekunde also dürfen meine Augen sorglos abschweifen, stets trachten sie danach, das Motorrad entweder links oder rechts von dieser Mittelnaht zu halten.
Hinter Gjövik das Gudbrandstal hinauf – das längste Tal Ostnorwegens, vorbei an Lillehammer und weiter, immer weiter gen Norden. Gegen 14.00 Uhr in praller Mittagshitze erreiche ich Otta, einen Ort kurz vor dem Dovrefjell und ich frage mich, wieso eigentlich erst morgen Abend in Trondheim ankommen, wenn ich doch ohnehin „gleich” da bin.
Vorsicht ist geboten!Also durchstarten und über das Dovrefjell hinüber! Direkt hinter Dombås windet sich die Reichsstraße in nur zwei Haarnadelkurven auf das Gebirgsplateau hinauf. Nahe kommt der Schnee an die Straße heran, die nun fast steigungslos über die weite Hochfläche führt und mich lange in kühler Luft unter stechender Sonne hält.
Dann zeigt ein Straßenschild die Grenze zum Tröndelag an; sogleich fällt die Straße ab und windet sich durch eine lange Schlucht – aber Vorsicht mitten auf der Fahrbahn dieser Europastraße E 6 liegen immer wieder große Eisbrocken, die von irgendwoher heruntergefallen sind.
Die langen Täler Ostnorwegens sind hinter mir zurückgeblieben. Ich bin nun in Mittelnorwegen; hier sind die Berge in die Ferne gerückt, das wellige Land ist bis zum Horizont mit Nadelwald bedeckt, nun sieht es so langweilig aus wie in Schweden. Am Spätnachmittag fängt mich die breite Einfallstraße nach Trondheim auf, die eine ganze Fahrspur für Taxis, Busse und solche PKW reserviert hält, in denen mehrere Personen sitzen. Wie in allen norwegischen Großstädten hat Mautgeld zu bezahlen, wer mit dem Auto in die Innenstadt hineinfährt – in Trondheim sind Motorräder allerdings gratis. So fahre ich der Sonne aus Nordwesten direkt entgegen und komme mitten im Stadtzentrum zwischen alten Holzhäusern nahe einer Straßenbahnwendeschleife in einem schlichten Hotel unter.
Am Dienstag sehe ich mir in Trondheim noch den Nidarosdom an, die größte gotische Kirche Skandinaviens, und nehme dann unter blauem Himmel sofort Kurs gen Westnorwegen; Tagesziel soll irgendwo zwischen Kristiansund, Molde oder Alesund sein.
Und heute stand Kurvenfahren auf dem Programm! Ich werde am Abend befriedigt feststellen, wie nahe der Reifenabrieb an die Felgen heranreicht.
Hinter Orkanger ging es auf das erste Fjell hinauf; wie immer führt die Straße in steilen, engen Kurven aus dem Tal hinauf auf eine schneebedeckte Hochfläche, verharrt dort in gerader Strecke und führt wieder abwärts – in das nächste Tal? Nein: ein erster Fjord leuchtet mich stattdessen an. Hier allerdings bezieht sich der Himmel mit grauer Wolkenschicht und sofort wird es kalt. Dafür aber scheint mir in einer versteckten hinteren Ecke des Vinjefjordes ein allererster grüner Schimmer über den Laubbäumen zu liegen – eine Fata Morgana?
Kurvig geht es weiter zur Fähre in Halsa; aber Fähren erweisen sich in Norwegen nie als ein Problem: entweder steht eine abfahrtbereit am Ufer oder aber es kommt mir eine langsam über den Fjord entgegen.
Kurvig geht es am anderem Fjordufer in Richtung Westen weiter und schon kommen die ersten Brücken näher, die die Inseln vor der Küste miteinander verbinden. Und dann führt ein erster sehr langer Tunnel unter dem Meer hinüber auf die Inselgruppe, auf der Kristiansund liegt. Dunkel ist der Tunnel, wie alle Tunnel im ländlichen Norwegen: eine Reihe kleiner Lämpchen leuchtet auf die gebrochene Mittellinie der Fahrbahn herunter, links und rechts davon ist tiefschwarze Nacht, in die ich mich mit meinem Scheinwerfer ängstlich hineintaste. Als äußerst unangenehm erweist sich die Sonnenbrille auf der Nase, die ich in dieser tiefen Tunnelschwärze noch nicht einmal abnehmen kann.
Aber nach vielen Minuten sind auch fünfeinhalb Kilometer Dunkelheit vorbei und ich rolle über bergige Inseln und weitere Brücken in eine kahle und ungemütliche Stadt Kristiansund hinein, die direkt vor der offenen See liegt.
Schnell will ich weiter und nehme die Fähre nach Bremsnes. Während ich mit den Pkw in einer Schlange warte, sehe ich norwegische Motorradfahrer – offensichtlich auf dem Wege nach Hause – direkt bis vor die Fähre rasen, um dort zu warten. Daraus lerne ich nie wieder in Norwegen in einer Warteschlange hinter Autos auf die Fähren zu warten.
In Bremsnes beginnt die Atlantikstraße in Richtung Molde. Gleichsam den Keys in Florida hat man hier sämtliche kleine Inseln direkt an der Außenküste mit Brücken verbunden und sie damit wie Perlen an der Schnur aufgefädelt. So komme ich – ohne eine einzige Fähre zu benutzen – gegen 19.00 Uhr in Molde an, habe die vielen Meeresarme mittels Brücken überquert und die vielen Bergrücken mittels Tunnel unterquert. Soll ich so früh am Tage schon wieder Schluss machen?
Vor mir liegt jetzt der weite Moldefjord und südlich davon ragt – in Norwegen nicht sehr häufig – ein bizarr gezacktes Bergmassiv empor; als wäre er zum Greifen nahe, so intensiv leuchtet der Schnee des Bergmassivs über den weiten Fjord herüber. Aber auch hier kommt mir eine Fähre langsam entgegen, die gegen 20.00 Uhr anlegt, alle Passagiere und Fahrzeuge aufnimmt und die Rückfahrt über den neun Kilometer breiten Moldefjord antritt. Vom Südufer führt eine wunderbar geschwungene Strasse, zu so abendlicher Stunde ohne Verkehr, die restlichen 60 Kilometer nach Alesund. Kurve um Kurve schwingt meine Maschine harmonisch dahin und gegen 21.30 Uhr bin ich über mehrere Brücken und Tunnel bis ins Stadtzentrum von Alesund gelangt. Ich buche ein Hotelzimmer in einem alten Speicher, höre plätschernden den Fjord direkt vor meinem Fenster und sehe mir gegen 23.00 Uhr noch in der Abenddämmerung diese Stadt an.
Kiche am Vinjefjord.Am Mittwoch geht es wiederum zur Sache: kurvige Uferstraßen fordern meine ganze Aufmerksamkeit. Wieso soll ich auf schnellstem Wege nach Bergen rasen, wenn Geiranger in der Nähe liegt? Aber der Weg in den Geirangerfjord führt über enge und an Berghängen klebende, von Tunnel zu Tunnel sich windende schmale Straßen, die mich auf halber Strecke vor einem Fähranleger ausspucken, wo die Fähre gerade abgelegt hatte. Da fährt ein Auto hinter mir auf, es ist ein Polizeiwagen – und schon drosselt die Fähre ihre Fahrt, legt wieder an, und mit dem Polizeiauto rolle auch ich unverhofft noch auf die Fähre.
Am anderen Ufer führt mich die Straße einen steilen Bergrücken hinauf und danach über 13 spektakuläre Serpentinen nach Geiranger hinunter. Aber aus dem Ort komme ich nicht hinaus, denn die jenseitige Passstraße ist wegen Schnees noch gesperrt; ich fahre die steile Passstraße zwar hinauf, komme dabei auch am Hotel Bellevue vorbei, vor dem ein Gedenkstein mitteilt: „Kaiser Wilhelm hat dieses Hotel elfmal besucht, erstmals im Jahre 1893”, stehe dann aber doch vor einem Schlagbaum, der nicht nur die Straße versperrt, sondern leider auch abgeschlossen ist. Da muss ich aufgeben und bis zum Nachmittag auf eine andere Fähre warten, die mich über den Geirangerfjord hinausbringt nach Hellesylt, wo ich wieder Anschluss an das norwegische Straßennetz finde.
Der Rest des Tages ist wieder Kurvenschwingen – wohlgemerkt Schwingen von der einen Kurve in die nächste, nicht Rasen von Kurve zu Kurve!
Am hinteren Ende des Sognefjordes liegt mein heutiges Tagesziel: Sogndal. Dorthin führen mich spätabends drei lange, jüngst erst eröffnete Tunnel unter dem Jostedalsgletscher hindurch; wie mit Grabeshauch wehen mich die dunklen Schlünder der Tunnelöffnungen an und saugen mich dann hinein in ihre Dunkelheit, die über Kilometer nicht enden will. Mein Widerwille gegen kilometerlange Tunnelfahrten wächst stark.
Auch am Donnerstag geht es zur Sache: Tunnelfahren steht heute auf dem Programm, als sei es bisher noch nicht genug gewesen!
Gleich auf der südlichen Seite des Sognefjordes geht es nach wenigen Kilometern in Norwegens längsten Tunnel hinein: 25,5 km lang und erst vor einigen Monaten eröffnet soll er die Straßenverbindung von Oslo nach Bergen wintersicher machen. Zwar ist die Beleuchtung in diesem Mammuttunnel ein wenig üppiger, aber weiße Randstreifen finden sich auch hier nicht auf der Fahrbahn. Also heften sich meine Augen wieder an die Mittellinie, damit meine Maschine bloß nicht an den schwarzen Außenwänden zerschellt. Alle acht Kilometer ist die Tunnelröhre zu einer Kuppel geweitet, die orange und bläulich ausgestrahlt wird, als sei ich im Palast der Schneekönigin angekommen – eine kleine Erleichterung für meine Augen, die nun anderes sehen dürfen als die ewig lange gestrichelte Mittellinie.
Und doch komme ich trotz Panikanfällen aus Norwegens längstem Tunnel heraus, einen kurzen Augenblick gleißt die Sonne auf alles, dann kommt der nächste schwarze Tunnel – und zu allem Überfluss leuchtet nun die Kraftstoffreservelampe auf! Dieser Tunnel ist aber nur sechs Kilometer lang und spuckt mich in das gleißende Sonnenlicht des Flamtals und hier erfahre ich, in 16 Kilometern gibt es die nächste Tankstelle.
Auf dem Weg ins westliche FjordlandGegen Mittag rolle ich nach Voss hinein, eine wichtige Stadt an der Bergenbahn und erstmals auf dieser Tour muss ich mich für eine Verschnaufpause nach etwas Schatten umsehen – den finde ich unter einer gerade grünenden Birke.
Auf der anderen Seite von Voss geht es wieder hinab auf die Meereshöhe des Hardangergebietes. Zum Fähranleger über den Eidfjord führt wieder ein gekrümmter Tunnel von mehreren Kilometern.
Eng und gewunden führt dann die Straße von einer Ortschaft in die nächste und ich will törichterweise den Inhalt eines Straßenschildes nicht zur Kenntnis nehmen: die Reichsstraße 13 nach Odda sei wegen Steinschlags gesperrt. Auf dieser Straße fahre ich gerade und sie sieht mir gar nicht gesperrt aus. Immer näher komme ich der am Fjordende gelegenen Stadt Odda, habe schon das Ortseingangsschild passiert – da ist die Straße wirklich gesperrt und ich muss die gesamten 41 Kilometer gewundener und enger Straße am Sörfjord zurückfahren bis nach Kinsarvik. Hier führt eine uralte Fährverbindung zunächst nach Utne und von dort weiter nach Kvanndal zur Landstraße nach Bergen. Wegen der Straßensperre ist heute die Schlange der wartenden Autos besonders lang. Welche Erleichterung für mich, dass mich das nicht bekümmern muss: wieder einmal rolle ich vor die Reihen der wartenden Autos. Und in Utne finde ich ein Zimmer direkt im historischen Fährkrug – für heute mag ich nicht mehr.
Freitag: es war ein gemütlicher Ausklang meiner Norwegen-Tour nach Bergen ich fahre die Uferstraße entlang, die Serpentinen hinauf auf das Fjell, durch unzählige Tunnel – gottlob kurze, denn bei der Tunneleinfahrt leuchtet mir schon das Licht des Tunnelausganges entgegen – und weiter in Richtung Bergen, bis ich nach zwei Stunden über Kreisverkehre und Stadtautobahnen das Mauthäuschen erreiche; hier in Bergen werde ich auch als Motorradfahrer mit zehn NOK zur Kasse gebeten!
Egal: sonnenbeschienen liegt die Stadt Bergen vor mir, von der man sagt, es regne hier an mehr als 300 Tagen im Jahr. Heute ist es regelrecht heiß in der Stadt, ich bin pünktlich angekommen – und das Seminar über Erbrecht mag beginnen.
Ich freue mich allerdings jetzt schon auf das Seminarende und auf die Weiterfahrt nach Oslo über die Reichsstraße 7: sicherlich warten viele Kurven auf mich, besonders diejeningen, die mit schwarz-gelben Richtungspfeilen ausgeschildert sind und in denen die Stiefelspitzen den Asphalt mühelos berühren.