aus Kradblatt 7/14
von Klaus Herder

 

MV Agusta Brutale 800 Dragster 

MV-Agusta-Brutale-800-Dragster-linksMachen wir es kurz und möglichst schmerzlos: Die Dragster ist nichts anderes als eine aufgepimpte Brutale, Motor und Rahmen sind völlig identisch. Dafür ist die Dragster aber deutlich teurer (13390 statt 11590 Euro), deutlich unbequemer und praktisch nicht soziustauglich. Im Winkelwerk ist die normale Brutale etwas leichter zu bewegen, benimmt sich gesitteter und ist auch etwas komfortabler. Auf den Punkt gebracht: Die Basis-Brutale kann alles genauso gut oder sogar besser und ist dafür günstiger. Gibt es also irgendeinen Grund, die Dragster statt der normalen Brutale zu kaufen? Jawoll, einen sehr gewichtigen: den Willie-G.-Davidson-Grund.

Was hat ausgerechnet Harley-Davidsons Ex-Designchef und Dauer-Maskottchen mit feinstem italienischen Maschinenbau zu tun? Der gute Willie G. hat vor geraumer Zeit mit nur einem Satz exakt auf den Punkt gebracht, was ganz allgemein ein gutes Motorrad ausmacht. Der Satz lautet (nicht ganz wörtlich übersetzt) folgendermaßen: „Ein Motorrad ist erst dann wirklich gelungen, wenn es in der Garage steht und sein Besitzer mit einer Flasche Bier in der Hand darum herumschleicht und dabei das ganz große Grinsen ins Gesicht gezaubert bekommt.“

MV-Agusta-Brutale-800-Dragster-WheelieZugegeben: Das Grinsen kann auch schon beim Rundgang um die Basis-Brutale recht breit ausfallen, doch der italophile Normalgrinser mutiert in Angesicht der Dragster zum ausgewachsenen Breitmaulfrosch, wenn er auch nur ansatzweise Sinn für sexy Formen hat. Und dann ist es ihm auch völlig egal, dass diese schrille Dreizylinder-Schönheit einen der dämlichsten Namen der Motorradwelt trägt: Drag­ster! Genauso gut hätte das Ding auch „Trucky“ heißen können, denn mit einem klassischen Dragster hat das ultrakompakte Kurvensuchgerät in etwa so viel zu tun wie mit einem Lkw – alle drei haben breite Hinterradreifen.

Im Falle der Dragster ist es eine auf die Sechs-Zoll-Felge des Superbikes F4 gezogene Pelle im Format 200/50 ZR 17, die Basis-Brutale trägt klassenübliche 180/55 ZR 17. Links neben der fetten Walze kümmert sich eine Alu-Einarmschwinge um die Radführung, an ebendieser Schwinge sitzt die von der Rivale bekannte und ziemlich knappe Spritzschutz-/Kennzeichenhalter-Kombination. Und überm Gummi? Nichts! Einfach mal nichts, denn ein Heck im klassischen Sinne hat die Dragster nicht. Wie zu besten Streetfighter-Zeiten herrscht dort, wo sich ansonsten Bürzel breit machen, gähnende Leere. Weggeschossen, abgebrochen, abgeflext – egal, sieht jedenfalls herrlich fies aus und sorgt dafür, dass das, was woanders als Soziussitz bezeichnet werden darf, bei der Dragster noch nicht mal Alibifunktion hat.

Weiter vorn thront anstelle eines breiten Brutale-Rohrlenkers ein dreiteiliger, 60 Millimeter schmalerer und etwas höher montierter Augenschmeichler, bestehend aus Mittelteil und zwei Lenkerhälften, die sich jeweils um sieben Grad verstellen lassen, was an den Lenkerenden bis zu vier Zentimeter in der Horizontalen ausmacht. Die Sache mit dem „schmaleren Lenker“ relativiert sich, wenn man die ausklappbaren und gar nicht mal so praktischen Rückspiegel dazu addiert: 1,08 Meter Durchfahrtsbreite – Supertourer haben auch nicht mehr, sehen dabei aber meist nicht so gut aus.

Der Fahrer sitzt in einer Sitzmulde, die ihn wie festgetackert perfekt in einer wheelietauglichen Sitzposition hält – und die Dragster mag Wheelies. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Die ziemlich immobile und stark vorderradorientierte Sitzposition stört spätestens dann gewaltig, wenn ausnahmsweise mal kein Wheeliefahren, sondern munteres Turnen angesagt ist. Also meistens.

MV-Agusta-Brutale-800-Dragster-Bosch-ABSDas ziemlich digitale Cockpit gehört übrigens nicht gerade zu den übersichtlichsten Vertretern seiner Art, aber interessiert das irgendjemanden, wenn man zum Beispiel die drei Orgelpfeifen-Endrohre des Auspuffs näher betrachtet? Eben! Und noch viel weniger interessieren schnöde Ergonomie-Themen, wenn man den unter Last herrlich kehlig fauchenden, in fünfstelligen Drehzahlregionen wild kreischenden Triple endlich das tun lässt, wofür er gebaut wurde: Läppische 186 Kilo Kampfgewicht plus Fahrer in möglichst kurzer Zeit in Richtung Führerscheinverlust zu katapultieren. Wenn die 125 PS und maximal 81 Nm des 798-Kubik-Triples antreten, ist das ganz große Grinsen angesagt – auch ohne Bierflasche in der Hand.

Drei feste Einstellungen (Rain, Normal und Sport) sowie ein frei programmierbares Mapping liefern für nahezu jede Lebenslage die passende Abstimmung. Allen gemein: die sehr direkte und tadellose Gasannahme via Ride-by-wire. Die Giftigkeit und das Zickige früherer Brutale-Vertreterinnen gehen der Dragster völlig ab, die MV-Macher haben in Sachen Motorelektronik-Abstimmung ganze Arbeit geleistet.

Und so tobt die Dragster bereits aus niedrigen Drehzahlen munter los, zündet bei 6000/min die erste Stufe des Nachbrenners, legt ab 8000 Touren noch eine Schippe drauf, erreicht bei 11600/min ihre Höchstleistung und lässt es bei 13000/min gut sein.

MV-Agusta-Brutale-800-Dragster-CockpitDamit im wahrsten Sinne des Wortes nichts verrutscht, ist eine achtstufig regelbare Traktionskontrolle an Bord. Die Arbeit im bestens abgestimmten Sechsganggetriebe geht dank serienmäßigem Quickschifter bei Bedarf ohne Kupplungseinsatz besonders schnell vom Fuß, und das ebenfalls serienmäßige, abschaltbare und nur knapp ein Kilo leichte ABS (Bosch, neueste Generation, Typ 9M Plus) fängt die Dragster in Zusammenarbeit mit den famosen Brembo-Vierkolben-Radialstoppern fein regelnd wieder ein, wenn es ihr Fahrer mal wieder übertrieben hat und die physikalischen Grenzen noch nicht ganz überschritten sind.

Bevor es im weiteren Verlauf der Dragster-Lobhudelei womöglich zu vernünftig wird, folgen ein paar Worte zum Fahrverhalten. Kurzer Radstand (1380 mm), steiler Lenkkopfwinkel (66 Grad) und geringer Nachlauf (95 mm) bescheren dem in Mattgrau und Weiß lieferbaren Spielzeug von Haus aus ein gehöriges Maß an Handlichkeit. Stoppies und Wheelies gehören zum Standard-Repertoire. Eine feine Sache, wenn der Belag potteben ist. und eine gewisse Herausforderung, wenn die Piste etwas welliger wird, denn dann bringt die Kombination aus breiter 200er-Pelle, harter Federbein- und eher softer Gabelabstimmung mächtig Wallung ins stählerne Gitterrohrrahmen-Gebälk. Die Fuhre stellt sich bei Bodenwellen in Schräglage spürbar auf, und während sich die Marzocchi-Upside-down-Gabel noch um eine halbwegs saubere Vorderradführung bemüht, gibt das Sachs-Federbein kurze Schläge ziemlich trocken an den Fahrer weiter. Der – wir erwähnten es bereits – felsenfest in seiner Sitzkuhle hockt und kaum eine Fluchtmöglichkeit hat. Besagte Effekte lassen sich aber recht einfach vermeiden: Landstraßen dritter Ordnung links (oder rechts) liegen lassen oder über den Zubehörhandel fahrwerkstechnisch aufrüsten.

MV-Agusta-Brutale-800-Dragster-rechtsMachen wir uns aber nichts vor: Die Dragster ist ein Showbike. Aber muss das ein Nachteil sein? Der deutsche Durchschnitts-­Motorradfahrer bringt es im Jahr auf rund 4000 Kilometer Gesamtfahrleistung. Da die ganzen GS-Treiber deutlich mehr abreißen, fahren andere entsprechend weniger. Vielleicht nur an sieben, acht Wochenenden pro Jahr. Und dann auch nur wenige Stunden auf der Hausstrecke. Braucht man dafür den unglaublich vernünftigen Reisehobel mit Sozia-Paket und 24-Liter-Tank? Der Spritbehälter der Dragster fasst exakt 16,6 Liter und die dürften bei etwas engagierterer Gangart nach gut 200 Kilometern abgefackelt sein. Also exakt nach der Strecke, die man an einem sonnigen Vormittag mit dem Messer zwischen den Zähnen nonstop gut bewältigen kann, um anschließend verschwitzt und gut gelaunt in die heimische Garage zurückzukehren. Dort greift man sich ein herrlich kühles Frühschoppen-Bier und macht dann was wohl? Ganz genau – Willie G. Davidson hat es sauber auf den Punkt gebracht. Und so gesehen ist die Dragster ein absolut gelungenes Motorrad!