aus bma 10/04
Text & Fotos: www.winni-scheibe.de
Wolfgang Brockmeyer ist MV-Fan. Am liebsten hätte er Agos 500er Vierzylinder-Werksrennmaschine von 1976. Doch an dieses Traumbike ist kaum heranzukommen. Und weil es nicht sein soll, hat er sich 1982 eine 750 S besorgt und sie mächtig umgebaut. Mit Tuning-Teilen, Kettenantrieb und vier offenen Megaphon-Rohren. Wenn er sie nicht fährt, steht das Schmuckstück im Wohnzimmer.
Das Abschlußrennen zur 500er Straßen-WM 1976 auf dem Nürburgring sollte in die Geschichte eingehen. Giacomo Agostini startet in der „Grünen Hölle” auf der legendären MV Agusta. Im Getöse des Zweitaktgeplämperes war das Brüllen aus den vier schwarzen Rohren der feuerroten MV für alle Viertakt-Fans ein wahres Open-Air Festival. Und dann passierte etwas, was kaum noch einer für möglich gehalten hätte, überlegen gewann „Ago-Nazionale” den Großen Preis von Deutschland. Gleichzeitig sollte es allerdings auch für das sonst vom Erfolg verwöhnte MV-Werk der letzte GP-Sieg sein. Gegen die schnellen Zweitaktmaschinen hatte der italienische 500er-Viertaktrenner nichts mehr zu begucken. Anfang der Saison 1977 zog sich MV Agusta nach insgesamt 3028 Rennsiegen und 36 WM-Titeln aus dem GP-Zirkus zurück. Eine ruhmreiche Ära ging ein für alle Mal zu Ende.
Das Rennwochenende in der Eifel ging MV-Fan Wolfgang Brockmeyer nicht mehr aus dem Kopf. Doch bis er sich seinen Traum von einer eigenen MV erfüllen konnte, vergingen noch ein paar Jahre. Im Frühjahr 1982 entdeckte er in Belgien eine überholungsbedürftige MV Agusta 750 S, Baujahr 1972. Für den handwerklich begabten Viertaktfan genau das Richtige. Schnell wurde man sich handelseinig und die Maschine wechselte als „Schnäppchen” für 10.000 Mark ihren Besitzer.
Zunächst wurde das Fahrzeug zerlegt, alle Bauteile gereinigt, begutachtet und eine Liste erstellt, was man alles brauchte. Die Kardan-Maschine originalgetreu zu restaurieren, kam ihm aber nicht in den Sinn. Seiner Meinung nach muß genau wie bei den MV-Rennmaschinen der Endantrieb über eine Kette erfolgen. Daher war es nur logisch, daß auf seiner Wunschliste neben allen Tuning-Teilen der Magni-Kettenkit ganz oben stand. Viele Teile ließen sich allerdings nur mit großer Mühe organisieren. Es vergingen Monate, bis Brockmeyer alles zusammen hatte, und erst nach drei Jahren war das Bike genau nach seinen Vorstellungen restauriert und umgebaut.
Der Fleiß sollte sich lohnen. Von ehemaligen 255 kg hatte sich das Gewicht nach dem Tuning auf fahrfertige 220 kg verringert. Aber nicht nur die fehlenden Pfunde, auch der Kettenantrieb lassen im Fahrbetrieb die Sportmaschine nun zu dem werden, was die Optik verspricht. Die Strassenlage läßt keine Wünsche mehr offen. Auch das Motortuning hat einiges gebracht. 90 PS bei 9000 U/min mobilisiert das Triebwerk, und je nach Übersetzung läßt sich die „aufgebohrte” MV mit nun 862 ccm auf über 220 km/h beschleunigen.
Begleitet wird die Ausfahrt vom rassigen Racing-Sound. Die vier Dell’Orto-Rennvergaser vom Typ SSI 27 mit zwei zentralen MV-Schwimmerkammern schnorcheln die benö-tigte Ansaugluft über offene Ansaugtrichter an, und die selbstgebaute 4-in-4-Auspuffanlage läßt keinen Arbeitstakt unüberhört. Nach außen sind die Rohre verchromt – doch innen fast blank. Mit diesen „Schalldämpfern” darf sich Brockmeyer allerdings nur abseits vom öffentlichen Straßenverkehr blicken und hören lassen. Alle Erinnerungen an den GP-Lauf 1976 auf dem Nürburgring werden wach. Wer dieses denkwürdige Rennen nicht miterlebt hat, kann nur erahnen, was damals abging.
Wer das Spektakel verpaßt hat, kann die Show fast alljährlich auf der Isle of Man bei der TT verfolgen. Die Begeisterung für den italienischen Edelrenner kennt hier keine Grenzen. Ganz gleich ob Surtees, Hartle, Hailwood, Hocking oder Agostini, die berühmten MV-Werksfahrer hat man auf der Insel längst noch nicht vergessen. Der MV-Bazillus sitzt bei den Briten recht tief. Und so kann es passieren, daß die Gebote für die 862er des deutschen MV-Owners auf über 35.000 Euro klettern. Doch verkaufen oder mit „TÜV-Schalldämpfern” herumfahren will er nicht. Und da die TT nur einmal im Jahr ist, hat seine Maschine in der restlichen Zeit einen würdigen Platz zwischen Couchgarnitur, Bücherschrank und Fernseher mitten im Wohnzimmer gefunden. Wenn Agostini das wüßte!
Technische Daten MV Agusta „Spezial” 862 ccm
Luftgekühlter Viertakt-Reihenmotor, 862 ccm, 90 PS bei 9000 U/min
Stahlrahmen
Bremsen vorne Doppelduplex-Trommel, hinten Simplex-Trommel,
Gewicht fahrfertig 220 kg
Höchstgeschwindigkeit 225 km/h.
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