aus bma 09/06
von Thomas Schaefer
Wenn ich im Autoreisezug nach Bozen erzählte, ich sei auf dem Wege nach Athen, meinte ich zu spüren, wie die anderen Motorradfahrer bei mir nach weiteren Anzeichen von Wahnsinn forschten. Dabei vertraute ich nur der sprichwörtlichen Zuverlässigkeit meiner BMW R 1100 S – wußte allerdings nicht, wie lange ich unterwegs sein würde und hatte mir vorsichtshalber für Hin- und Rückfahrt zwei Wochen gegeben.
Am 1. Tag, es war Ende März, fiel der erste Blick morgens aus dem Liegewagenabteil auf Sterzing im Schnee. Der Anblick ließ mich kalt; wie erwartet rollte der Zug mit jeder weiteren Kurve vom Brenner hinunter dem Frühling entgegen. In Bozen war er bereits eingezogen.
Noch nie war ich mit dem Motorrad in Italien gewesen und von der italienischen Polizei hatte ich Fürchterliches gehört. Vorsichtig und angepaßt rollte ich ab Bozen auf der Autobahn durch das Etschtal.
Dann aber öffnete sich das enge Etschtal und entließ mich ohne Übergang in die weite Po-Ebene. Hier lernte der Motorradfahrer in mir ein ganz anderes Italien kennen: Etwa die Leuchtzeichen über der Autobahn „Rallentare! Rispettare la velocita!” Die italienischen Autofahrer schienen sie zu deuten als „fahr so schnell Du kannst!” Auf der Höhe von Modena hatte selbst ich dieses als 1. Lektion begriffen.
Vor mir tauchte der Apenninrücken auf, ich verließ die Autobahn in Parma und schlängelte mich durch dieses imposante Gebirge auf kurvigen Paßstraßen, kam dabei plötzlich auch an einem Straßenschild vorbei „Canossa 11 km” – irgendwie ein bekannter Name aus dem Geschichtsunterricht, lang ist’s her. Aber noch beeindruckender war die häufige Begegnung mit italienischen Motorrad- fahrern: Niemals einzeln, sondern stets in Pulks und dutzendstark rasten sie unvermittelt von hinten heran und an mir vorbei. Nach deutschem Gefahrempfinden hätte ich ungezählte schwere Verkehrsunfälle auf der Strecke über den Apennin erleben müssen, ich erlebte aber keinen.
Am Abend dieses Tages hatte ich schon die 2. Lektion gelernt: Eine zweispurige italienische Landstraße hat in Wirklichkeit drei Spuren – in der Mitte rasen die Motorräder; und wenn diese ein klein wenig Rücksicht walten lassen, dann öffnet sich für entgegenkommende Motorräder sogar noch eine 4. Spur – was den links und rechts gegenläufig vorbeirauschenden Autoverkehr unbeeindruckt läßt.
Am 2. Tag fuhr ich bereits italienisch. Gern standen sichtbar an den Ortseingängen die Carabinieri, aber ich lernte schnell, daß sie eben nur stehen – malerisch die eine Hand in der Hosentasche ihrer bunten Uniformen, immer zu zweit, und meistens miteinander redend. Es blies bei blauem Himmel ein kalter Wind vom Apennin hinunter; er hörte gar nicht auf. In der kommenden Nacht sollte ich den Wind so laut durch die Straßen Roms heulen hören, daß ich ernsthaft befürchtete, er werde meine Maschine umblasen.
Von Ostia habe ich nur Strand und Straßen in Erinnerung, durch die dichte Staub- und Sandwolken trieben. Aber bis Rom war ich immerhin schon gekommen und in Erwartung des römischen Verkehrs wurde ich immer nervöser, je mehr ich mich der Innenstadt näherte. Doch welch ein Irrtum! Welch überflüssige Sorge! Zugegeben: In Rom kann man nicht steuern, wohin man fährt, denn man wird vom Verkehr einfach fortgespült, weiter, immer weiter irgendwohin, bis man am Straßenrand über- prüft, ob es überhaupt noch die richtige Richtung ist. Aber dergleichen geschieht auch in anderen Großstädten. Aus anderen Großstädten kannte ich jedoch nicht, was ich als eine ungemeine „Zärtlichkeit” erlebte, die mir völlig unerwartet nun ausgerechnet in Rom widerfuhr: Man wird vom Verkehr ständig fortgespült, weitergeschoben, das ist richtig, aber keiner ist böse, keiner hupt, jeder läßt jeden gewähren. Der Verkehr in Rom ist Chaos total, es ist keine Ordnung zu erkennen und keine Regel, alles fährt, irgendwie, aber es fährt – und keiner hupt!
Am 3. Tag kam ich abends in Neapel an und übernachtete vor der Stadt in einem Appartement am Meer mit Blick auf Ischia. Italien schien überall malerisch zu sein: Immer blickte ich auf hohe Berge und sah zugleich das Meer. Dann in Süditalien angekommen, durchfuhr ich weiße Städte, über deren Mitte die mächtigen Kuppeln der Kirchen thronten. Bis Neapel lernte ich auch die 3. Lektion: Rote Ampeln sind – durchaus – eine Anregung, die Verkehrslage zu überprüfen, insbesondere den Querverkehr. Aber wenn von dort keine Gefahr droht, dann macht es keinen Sinn, vor Rotlicht anzuhalten, dann startet man durch!
Womit ich nicht gerechnet habe: Ich stand unter sternenklarem Himmel am Meer und fror, als gäbe es Frost. Der Marmorboden im Zimmer war eiskalt, warmes Wasser gab es nicht und oben auf den Bergen im Apennin hinter Neapel lag Schnee. Auch wenn es wunderschön war, ich fror in Italien und sehnte mich nach Wärme. Es drängte mich daher weiter in Richtung Griechenland.
Am 4. Tag umrundete ich den Golf von Neapel, schlängelte mich hoch über tiefblauem Meer an steilen Berghängen durch bekannte Orte wie Sorrent und Amalfi. Die Straßen so schmal, daß selbst ich Mühe hatte, deutsche Touristenbusse zu überholen. Danach mochte ich keine Kurven mehr schlängeln und benutzte ab Salerno die Autobahn quer durch den winterlichen Apennin, bis ich jenseits der beschneiten Berge im flachen Apulien war, wo die Olivenbäume bis zum Horizont stehen. Im Hafen von Bari drängelten sich die Fahrzeuge für die Überfahrten nach Dalmatien, nach Griechenland, ja sogar nach Albanien, aber auf der Fähre nach Igoumenitza fand sich für mich natürlich noch ein Platz.
Am 5. Tag erreichte ich noch in der Morgendämmerung Igoumenitza und rollte durch ein frühmorgenliches Griechenland in Richtung Golf von Korinth. Auch damit hatte ich nicht gerechnet: Die Landschaft Griechenlands ist jungfräulich, sie wirkt unberührt, trotz ihrer Kargheit aber lieblich. Keine Zäune teilen das Land, auf den Berghängen darf wachsen, was will, wie es will, wo es will. Durch das Land führt nur die gut ausgebaute Straße ohne Verkehr. Groß-zügig geschwungen führte mich diese am Nordufer des Golfes von Korinth Kurve um Kurve in das Landesinnere, auf meiner Seite das Gebirgsmassiv des Parnassos mit Bergen bis zu 2.500 m, drüben die hohen Berge auf dem Peloponnes mit Bergen bis zu 2.400 m, auch dort lag oben Schnee. Ich übernachtete wieder mit Blick auf das Meer.
Am 6. Tag erreichte ich abends tatsächlich Athen! Am Vormittag kam ich durch Delphi. Malerisch liegt dieser Ort an die Hänge weit oben ins Gebirgsmassiv des Parnassos geklebt und erlaubt einen weiten Blick hinüber auf den Peloponnes.
Aber in Delphi war es kalt und regnerisch, und der Regen hörte auch jenseits der Berge in der Ebene von Theben nicht auf. Ein wenig Wärme spürte ich nachmittags, als ich im Verkehr von Athen steckte und nicht so recht voran kam, vor allem aber mangels Straßenschildern nie genau wußte, wo ich mich eigentlich befand. Mir blieb nur mein innerer Kompaß, der Ruhe gab, solange mich nur der Verkehr in Richtung Piräus spülte. Aber in Piräus war es mir zu laut für die Nacht, und so verließ ich den Athener Großraum entlang des Meeres in Richtung Kap Sunion. Kurz vor dem Kap fand ich in der Abendkühle als einsamer Gast wieder ein Zimmer mit Meeresblick. Der Hotelier bestand darauf, daß wir gemeinsam meine Maschine ein paar Treppenstufen hinauf und hinein in die Hotelhalle schoben – und zwar direkt vor die Rezeption. So stand die BMW R 1100 S stets in Sichtnähe, während ich zunächst Tzatziki aß und mich vom Kaminfeuer wärmen ließ.
Am 7. Tag umrundete ich Kap Sunion und quälte mich dann von Nordosten durch nicht endende häßliche Vorstädte zurück in die Athener Innenstadt bis zur Plaka. Von dort sah ich mir die Akropolis nur von unten an. In Athen habe ich übrigens meinen letzten Rest an Respekt vor Verkehrsregeln verloren – ich wäre nämlich der Einzige gewesen, der ihn überhaupt hätte.
Abends rollte ich mit dem Feierabendverkehr in Richtung Korinth und hinüber auf den Peloponnes und dann über kurvige Landstraßen hinunter bis nach Nauplion. Mein Zimmer hatte zwar keinen Blick auf das Meer, dafür aber etwas Tolleres: Einen Heizkörper, der sogar warm war! Ich legte die Hände darauf und genoß die Wärme.
Am 8. Tag kam ich nach einer Fahrt quer durch den Peloponnes abends in Kiparissia an. Mitunter verhingen Regenwolken die Berge. Zaghaft fielen einzelne Tropfen. In Ki- parissia bekam ich ein Zimmer mit Meeresblick im 6. Stock. Ich eröffnete für mich die Badesaison im Ionischen Meer. Das Wasser erschien mir wärmer als die Luft.
Am 9. Tag war zwar Ostersonntag, dieses aber nicht in Griechenland, denn hier findet Ostern nach einem anderen Kalender ein Wochenende später statt. In Kalamata erreichte ich den südlichsten Punkt meiner Reise. Ich konnte mich am Strand sogar sonnen. Von da an ging es nur nordwärts, bis ich irgendwann wieder in Hamburg sein sollte. Vorerst aber mußte ich den südlich ausgestreckten Finger des Peloponnes mit Bergen bis zu 2.500 m überqueren, auf denen natürlich Schnee lag. Dahinter befand sich Sparta, eine heutzutage uninteressant wirkende Stadt, ebenso uninteressant wie Tripolis. Trotz des späten Nachmittags entschied ich, noch 150 km bis Olympia zu fahren. Es wurde einer meiner vielen wunderbaren Fahrten durch die griechische Bergwelt, auf einer gut ausgebauten Straße, die sich an den Dörfern vorbeischlängelte, die ihrerseits an den Berghängen klebten und in ihrem Baustil an den Balkan erinnerten.
Am 10. Tag, dem Ostermontag, kam ich mittags in Patras an, setzte von hier über den Golf von Korinth, fuhr ein weiteres Mal am Nordufer des Golfs von Korinth entlang, bog dieses Mal allerdings nicht nach Delphi ab, sondern nach Lamia. Hinter Lamia begann ein Stück griechische Autobahn, bei der das Mautsystem noch nicht in Betrieb war. Ich durfte also kostenlos fahren – jenseits des Wasser stets die Berge der Insel Euböa. Abends erreichte ich Volos, eine Stadt am Golf von Volos, von der offenen Agäis nur 25 km entfernt, gleichzeitig von ihr durch ein hohes Küstengebirge getrennt.
Am 11. Tag wartete um 22 Uhr die Fähre in Igoumenitza auf mich. Die 362 km bis dahin mußten also zurückgelegt werden: Es ging zu-nächst durch die Ebene von Thessalien mit grüner Saat auf roter Erde, dann hinter Trikala an den Meteora-Klöstern vorbei und schon begann eine unvergeßliche Fahrt durch das Pindos-Gebirge. Bis zum Sonnenuntergang schwang ich Stunde um Stunde auf guter Straße ohne Verkehr Pässe hinauf, Pässe hinunter, ab und zu Busse jagend, sie einholend, sie elegant umfahrend. Da ich vor Abfahrt der Fähre noch Zeit hatte, rollte ich nach meinem Abschiedsbad im Ionischen Meer aus Igoumenitza noch nach Norden in Richtung auf das nahe Albanien, aber fehlende Straßenschilder und damit einhergehender Verlust der genauen Orientierung ließen mich bald umkehren.
Am 12. Tag erwartete mich Bari unter wolkenverhangenem Himmel. Nordwärts ging es durch weißliche, reizlose Landschaft und weiße Städte umgeben von Industrieanlagen bis zum Sporn von Italien, dem Gargano. Davon hatte ich Positives gehört, aber der erste Eindruck, etwa in Manfredonia, war enttäuschend. Das änderte sich ganz entscheidend, je mehr ich zum Kap bei Vieste hinausfuhr: Eine enge Straße wurde es, mit vielen gefährlichen Kurven, meist hoch über dem Meer, aber paradiesisch schön. Ich bekam ein Privatzimmer in einem Bungalow über den Felsen am Meer. Der Marmorfußboden war eiskalt, als Tür diente der obligatorische Schnürvorhang, das warme Wasser war nicht in Betrieb und das Restaurant war noch geschlossen. In der Restaurantküche durfte ich mich deshalb vor dem offenen Kamin aufwärmen.
Der 13. Tag war ein Regentag. Anfangs lachte ich noch über den Versuch des mediterranen Wetters, mich erprobten Nordeuropäer zu erschüttern, aber ab Foggia ließ der Regen gar nicht mehr nach und begleitete mich auf der Autostrada des Sol entlang der Adria von Süditalien bis hinauf nach Norditalien, wo ich abends in Rimini ankam. Zum Trocknen konnte ich mich nur ins Bett legen. Es wurde keine ruhige Nacht, denn die vielen noch geschlossenen Hotels wurden von unentwegt kläffenden Hunden bewacht.
Am 14. Tag gönnte ich mir einen Abstecher hinauf nach San Marino und kann diese kurvige Fahrt jedem empfehlen. Die ersten deutschen Motorradfahrer traf ich dort. Sie haben von Freising aus einmal kurz die Alpen queren wollen und waren hier angekommen.
Abends erreichte ich nach langer Fahrt durch das Po-Delta die Stadt Chioggia am Südende der venezianischen Lagune. Die bunten, alten Häuser erinnerten mich an Venedig. Was mir erstmals auffiel: Das malerische Italien der bunten Häuser, wie es meine Erinnerung abgespeichert hatte, gibt es nur hier in Norditalien. Ab der Linie Livorno-Ancona sind in Italien die Naturfarben weiß, beige, braun vorherrschend.
Am 15. Tag nahm ich schweren Herzens Abschied von Italien. Um so bewußter genoß ich die Fahrt aus der Po-Ebene durch das enge Brenta-Tal Richtung Bozen. Obwohl ich pünktlich ankam, war die Beladung des Autoreisezuges schon abgeschlossen. Kurzerhand ordnete der italienische Eisenbahner an, daß mein Motorrad eben auf der oberen Ladefläche verzurrt werden sollte.
Erstmals also reiste meine BMW R 1100 S auf der oberen Ladefläche, was die Eisenbahner in Altona sehr verwunderte. Ich kam eben aus Italien!
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