aus bma 05/98

von Marcus Lacroix

Wohl kein anderer Motorradhersteller arbeitet derzeit seine Firmengeschichte so konsequent auf wie Kawasaki dies gerade macht. Nachdem der japanische Hersteller mit den Zephyr-Modellen die großenKawasaki ZRX 1100 unverkleideten Vierzylinder der 70er Jahre von den Toten auferstehen ließ und andere Hersteller auf diesen – Umsatz versprechenden – Zug aufsprangen, präsentierte Kawasaki im letzten Jahr die ZRX 1100. Ohne Frage flossen in dieses Modell die stilistischen Elemente der legendären Z1R ein. Glücklicherweise beließ es Kawasaki bei den optischen Anleihen, denn die Fahrwerke der Superbikes aus den 70ern sollen ja nun nicht das Gelbe vom Ei gewesen sein.
Ehrlich gesagt kenne ich diese Storys nur vom Hörensagen, denn als die Z1R auf dem Markt erschien, verließ ich gerade die Grundschule, und heutzutage kommt man kaum noch in den „Genuß” eine originalgetreue Maschine aus dieser Zeit zu fahren. Die Optik des Oldtimers spricht mich aber genauso an, wie das Remake in Form der ZRX 1100 und so war ich dem Kawasaki-Vertragshändler Klaus Kiebitz aus Wildeshausen wirklich dankbar dafür, daß er uns den Vierzylinder für drei Tage überließ.
Aufmerksame Leser werden mich als Liebhaber von Motorrädern mit maximal drei Zylindern kennen. Speziell mit japanischen Vierzylinder-Motorrädern hatte ich bisher so meine Last. Die Fahrzeuge für den sportlichen Einsatz sind für meinen Geschmack oft zu sportlich, die Naked Bikes wiederum nicht sportlich genug. Die Kawasaki ZRX 1100 bewies mir in diesen drei Tagen jedoch, daß auch ich mit einem japanischen Vierzylinder sehr glücklich werden könnte.

 

Kawasaki ZRX 1100Die Sitzposition der Kawasaki empfinde ich als nahezu ideal. Der Oberkörper ist leicht nach vorne gebeugt, ohne daß das Gewicht die Handgelenke unangenehm stark belastet, und die Fußrasten befinden sich in einer Entfernung zur Sitzbank, die auch längere Fahrten nicht zur Tortour werden läßt. Für eine sportliche Gangart könnten sie vielleicht sogar noch ein klein wenig weiter hinten liegen. Die Sitzbank ist angenehm gepolstert, und der strukturierte Bezug bietet einem auch in textilen Fahranzügen ausreichenden Halt. Der Sozius sitzt weniger gut, denn seine Fußrasten sind eindeutig zu hoch angebracht. Die Schuld daran trägt der voluminöse Endschalldämpfer, der sportlich-modern hochgezogen ist. Hier könnte die alte Z1R sicherlich Pluspunkte sammeln.
Für lange Urlaubsfahrten mit Sozius ist die ZRX aber nicht nur deshalb die zweite Wahl. Die maximale Zuladung von rund 180 Kilogramm wird von zwei Erwachsenen mit Gepäck recht schnell erreicht. Der Blick in die technischen Daten offenbart allerdings auch, daß die ZRX fahrfertig circa 250 Kilogramm auf die Waage bringt. Ehrlich, diese fünf Zentner merkt man ihr nicht an. Sie wirkt schon rein optisch leichter und läßt sich erstaunlich einfach rangieren. Daß es sich um eine 1100er handelt, erkennt man nur an den Emblemen auf den Seitendeckeln.
Kawasaki ZRX 1100Während sich die Formgebung der Lackteile an die Z1R anlehnt, erinnert technisch kaum etwas an vergangene Zeiten. Gebremst wird heutezutage vorne mit zwei Sechskolbenbremszangen, der Motor ist flüssigkeitsgekühlt und die Dreispeichen-Gußfelgen tragen Gummis in zeitgemäßem 120/70 und 170/60er Format. Lediglich die formschöne Aluschwinge erinnert daran, was der Zubehörmarkt damals gegen die Fahrwerksschwächen anbot. Die Superbikeschwinge stützt sich klassisch über zwei Federbeine gegen den Rahmen ab. Während die kantige Optik der Kawa vielleicht nicht jedermanns Sache ist, wird sich bei einer Probefahrt wohl niemand dem Reiz entziehen können, den ein hubraumstarker Vierzylindermotor auf den Fahrer ausübt.
Zunächst war ich ja ein wenig enttäuscht, denn Klaus Kiebitz ermahnte mich, den noch nicht eingefahrenen Motor auf den ersten paar hundert Kilometern nicht über 5.000 Umdrehungen je Minute zu scheuchen. Schnell merkte ich jedoch, daß dann im letzten Gang bereits 130 km/h auf dem Tacho stehen, was auf der Landstraße allemal ausreicht. Aus 1.052 Kubikzentimetern Hubraum zaubert der kurzhubige Motor ein beeindruckendes Drehmoment. Die Spitzenleistung von 98 Pferdestärken bei 8.500 U/min sind daher eher nebensächlich, denn sie lassen sich im Alltag kaum in Vortrieb umwandeln. 80 Newtonmeter Drehmoment, die bereits bei 2.000 U/min anliegen und die mit 95 Nm 4.000 U/min später den Zenit der Drehmomentkurve erreichen, versprechen hingegen puren Fahrspaß. Bei den dann auf dem Drehzahlmesser stehenden 6.000 U/min preßt der Motor 80 PS auf die Kurbelwelle.
Kawasaki ZRX 1100Läßt man die Kupplung im ersten Gang mit ein wenig Gefühl kommen, marschiert die ZRX schon bei Standgas los. Die fünf Gänge des – bei der nicht eingefahrenen Maschine etwas hakeligen – Getriebes sind innerhalb kürzester Zeit durchgeschaltet, und danach kann bis zum nächsten Halt eigentlich alles im letzten Gang geschehen. Die Möglichkeit zum schaltfaulen Fahren – in Verbindung mit der bereits beschriebenen fast tourermäßigen Sitzposition – verleiten einen somit durchaus mal zum Bummeln. Die ZRX nimmt’s gelassen und reizt den Fahrer nicht zum Heizen.
Mehr Spaß macht die Landstraßenfahrt jedoch, wenn man der Kawasaki ein wenig die Sporen gibt. Vom Landstraßenlimit ausgehend vor Kurven – ohne schalten zu müssen – die Geschwindigkeit erhöhen, die Maschine in Schräglage fallen lassen und am Scheitelpunkt der Kurve den Drehmomentschub des Kraftpaketes auskosten. Hach, ich sag’ Euch, das Leben kann schön sein!
Das Fahrwerk glänzt mit einer fast perfekten Abstimmung. Die Auswahl der einzelnen Komponenten sowie deren Anordnung ist Kawasaki ausgesprochen gut gelungen, denn die ZRX fährt sich bemerkenswert handlich. Erst bei scharfen Wechselkurven auf schmalen Wegen spürt man das Fahrzeuggewicht, denn diese Übung erfordert Kraft. Glücklicherweise gibt es in Norddeutschland solch tückische Kurvenkombinationen höchstens auf asphaltierten Feldwegen, so daß der Gewichtsnachteil meistens nicht zu spüren ist. Wie gut das Fahrwerk arbeitet, merkt man, wenn man die 1100er auf den schlechtesten Abschnitten seiner Hausstrecke richtig fliegen läßt. Selbst bei Schlaglöchern und Bremsmanövern in Schräglage vermittelt die ZRX kein Gefühl der Unsicherheit. Sie bleibt dabei stabil und zielgenau. Die serienmäßige Bridgestone-Bereifung trägt ihren Teil dazu bei, zeigt keine Schwächen und bietet auch bei nasser Fahrbahn erstaunlich viel Grip.
Die werksmäßigen Fahrwerkseinstellungen kann ein Fahrer mit 70 Kilogramm Trockengewicht ruhig unangetastet lassen. Lediglich die Dämpfung am Heck habe ich leicht erhöht, um ein Nachwippen bei Bodenwellen zu verhindern. Wer die Einstellmöglichkeiten des Fahrwerks bis ins Detail ausnutzen möchte, kommt nicht umhin, sich ein Fachbuch über Fahrwerkstechnik zu kaufen und sich in die Materie einzuarbeiten. Eine lohnenswerte Ausgabe ist so ein Buch bei der Kawasaki ZRX 1100 ganz bestimmt, denn das Fahrwerk läßt sich vorne und hinten in Federvorspannung sowie Stoßdämpferzug- und -druckstufe einstellen.
Nachdem Motor und Fahrwerk der ZRX schon echte Glanzlichter gesetzt haben, wäre es natürlich sehr bedauerlich, wenn die Bremsen hier nicht mitspielen würden. Glücklicherweise hat Kawasaki auch bei ihnen ganze Arbeit geleistet. Der Frontstopper, mit seiner Doppelscheibe und den Sechskolbenbremssätteln fällt in die Kategorie Zweifingerbremse, auch wenn er vielleicht ein klein wenig mehr Kraft benötigt als andere seiner Klasse. Im Alltag ist das eher ein Vorteil, denn in Gefahrensituationen sinkt das Sturzrisiko durch plötzliches Überbremsen, und die Bremse läßt sich einfacher dosieren. Die eine Scheibe der Hinterradbremse unterstützt die Anlage im Vorderrad unauffällig.
Während die ZRX 1100 für die Landstraßenhatz eine ausgesprochen gute Wahl ist, muß sie sich auf der Autobahn den vollverschalten Maschinen natürlich geschlagen geben. Ihre kleine Cockpitverkleidung hat im Hochgeschwindigkeitsbereich keine Chance gegen den hereinbrechenden Orkan. Spätestens ab 180 km/h wird es für den Fahrer extrem ungemütlich. Geschwindigkeiten jenseits der 200 km/h Markierung sind theoretisch möglich, ausprobiert habe ich es jedoch nicht. Bei längeren Autobahnetappen auf dem Weg in den Urlaub, wird sich die Reisegeschwindigkeit bei maximal 150 km/h einpendeln.
Die ZRX 1100 ist mit einem KCA genannten Sekundärluftsystem ausgestattet, das auch ohne Kat dafür sorgt, daß die Abgasgrenzwerte der „Euro 1” Norm unterschritten werden. Der 20 Liter Stahlblechtank ermöglicht Reiseetappen von bis zu 350 Kilometern. Als Landstraßenverbrauch bei recht zügiger Fahrweise ermittelten wir einen Verbrauch von 5,9 Litern Normalbenzin je 100 Kilometer. Eine Tankanzeige informiert über den Spritpegel (im Tank, nicht im Fahrer), und ein Unterdruck-Benzinhahn gibt im Bedarfsfall die 4,5 Liter Reserve frei.
Positiv zu vermerken ist außerdem die Einstellung der Kettenspannung über Exzenter und der enorm große Stauraum unter der Sitzbank, der problemlos die Regenbekleidung aufnimmt.
Auf der Negativseite ist vor allem der fehlende – und auch nicht vorgesehene – Hauptständer zu nennen. Dadurch wird nicht nur das Kettenspannen erschwert, sondern auch das Ölschauglas auf der rechten Fahrzeugseite verliert seine Vorteile. Wer die ZRX nicht im Winter über gesalzene Straßen scheucht, wird mit der Verarbeitungsqualität keine Probleme bekommen. Andernfalls würden Aluteile und brünierte Schrauben wohl bald unansehnlich werden. Die zur Verfügung stehenden Farben silber, rot und violett sind Geschmackssache. Ich persönlich würde wahrscheinlich gleich beim Neukauf etwas Geld in eine andere Lackierung stecken. Bei einem empfohlenen Verkaufspreis für die ZRX 1100 von 16.490 DM ist das zumindest eine denkbare Alternative zu den Serienfarben.
Trotz der zum Schluß geschilderten Unzulänglichkeiten hat mich die ZRX – wie kein Japaner vor ihr – in Versuchung geführt, meine private eierlegende Wollmichsau aus bayerischen Landen auf’s Altenteil zu schicken und meine Gunst den Söhnen Nippons zu schenken. Wer auf der Suche nach einem faszinierenden, kraftvollen Japaner ist, sollte die ZRX 1100 unbedingt probefahren. Die Möglichkeit dazu bietet unter anderem Kawasaki Kiebitz in Wildeshausen (Tel. 04431/4728).