aus bma 9/00

von Jörg Pape

So, jetzt im Anlieger am Scheitelpunkt das Gas aufmachen und den kraftvollen Druck des 649ccm-Einzylinder-Viertakters verspüren. Doch die Freude ist von kurzer Dauer, denn auf der Geraden vor dem Sprung gibt es derbe Schlaglöcher und bei Speed muss manHonda XR 650 den Lenker für einen sauberen Geradeauslauf gut festhalten. Klasse, dass wir gleich die Zugstufe der Gabel verändert haben, sonst würden die Schläge in den Handballen noch stärker zu spüren sein. Doch nun der Sprung.
Ok, auch zwei Meter Höhe verkraftet das Fahrwerk. Allerdings, viel mehr sollte es nicht sein. Schon gilt es, die nächste Kurve mit den gut zu dosierenden Nissin-Bremsen anzubremsen, dann passiert aber ein Ausrutscher, und das Motorrad ist aus. Für den Start wird nun mit Hilfe des Dekohebels der Totpunkt gesucht, und dann der Kick-Starter kräftig heruntergetreten, ein E-Starter steht nicht zur Verfügung. In der Regel läuft der große Einzylinder sofort wieder, im warmen Zustand ist das Anspringverhalten ein wenig besser als bei kaltem Motor – und weiter geht’s.
Ach so, von welchem Motorrad ist überhaupt die Rede? Von der neuen Honda XR 650! Lange, sehr lange haben viele Honda-Fans auf eine neue leistungsstarke XR gewartet und sind zum Teil schon auf europäische Hersteller umgestiegen.

 

Klar sind die eingangs beschriebenen Cross-Szenen nicht das Metier der 650er Honda mit 146 kg Startgewicht. Jedoch lassen sich hier Grenz-Situationen ertesten, die die Honda gut bewältigt hat. Die Haupt-Einsatzzwecke für den sportlich ambitionierten Enduro-Piloten sind: die Wege zur Arbeit, am Wochenende in die Kieskuhle und auch schon mal die Teilnahme an einer Rallye oder einer lizenzfreien Veranstaltung. Wie gesagt, die richtig derben Situationen sind nicht ganz das Ding der neuen Honda. Steckt die Fuhre fest, findet man kaum Griffpunkte, um die Enduro herauszuziehen. Geht es aber über Tiefsand und Honda XR 650Steilauffahrten, steht immer genügend Leistung (offen 61 PS) zur Verfügung. Insbesondere das Fahren auf Feldwegen macht damit enorm Spaß. Ab dem mittleren Drehzahlbereich erfolgt ein enormer Schub. Hier hat der Fahrer den Lenker gut festzuhalten, da das Vorderrad schon mal sehr leicht werden kann. Der Motor ist zwar drehfreudig, jedoch schaltet man besser hoch, um die ganze Leistung aus dem Drehzahlkeller zu erhalten.
In engen Passagen und Kurven erweist sich die XR mit der leichtgängigen Lenkung und dem großen Einschlagwinkel als relativ handlich. Ist höheres Tempo angesagt, kann man einen besseren Geradeauslauf gegenüber den alten Modellen feststellen, jedoch ist durch die nicht sehr sensible Gabel eine kräftige Hand erforderlich. Im Zweifelsfall reicht ein Befehl an den 40er Keihin-Vergaser und der Hinterradzug mit dem groben IRC-Reifen bringt die Honda wieder auf die Bahn.
Auffällig ist dabei die Laufkultur und Ruhe des Vierventilers mit Trockensumpf-Schmierung, obenliegender Nockenwelle und Ausgleichswelle. Einen Donnerbolzen kann man sieHonda XR 650 wirklich nicht schimpfen, so leise ist die Japanerin. Schade nur, dass die Auspuffanlage nicht vollständig aus Edelstahl besteht und somit leichter korrosionsanfällig ist.
Die deutsche TÜV-Version der Honda wird mit einer sehr langen Übersetzung ausgeliefert. Ein Glück, dass die hervorragende Kupplung einem hilft, durch das weiche Fünfgang-Getriebe zu schalten und die Leistungsentfaltung nach Wunsch zu dosieren. Wer vorhat, häufig das Gelände und den norddeutschen weichen Sand zu befahren, dem sei empfohlen, sich beim Kauf der XR gleich um eine kürzere Übersetzung zu kümmern.
Nach dem Geländeritt schauen wir uns die unauffällig wirkende Honda noch einmal genauer an. Im Blickpunkt stehen der große Motorblock mit dem 649 ccm-Zylinder und der wuchtige, sehr sauber verarbeitete Alurahmen. Für den TÜV wird dem Motor allerdings durch eine kleinere Düse und eine Durchlassreduzierung im Ansaugstutzen Einhalt geboten. Auf den zweiten Blick fallen weiter folgende Punkte auf: der Luftfilter verfügt über einen Schnellverschluss bei der Abdeckung (schnell allerdings erst nach einigen Übungsversuchen), das Alu-Rahmen-Heck ist verschraubt, der Motor verfügt über einen Plastik-Unterschutz und zur Info des Piloten steht ein einfacher Tacho zur Verfügung. Für den Start kann der Choke in zwei verschiedenen Positionen aktiviert werden.
Honda XR 650Man sitzt auf der Honda mehr auf als im Motorrad, die hohe Sitzposition mit 93,5 cm und der hohe Lenker kommen dabei gerade größeren Fahrern entgegen. Die Hände sind durch serienmäßige Handguards geschützt. Die harte Sitzbank ist weit am Kunststofftank (10 l und 4,5 l Reserve) hochgezogen und erlaubt unterschiedlichste Gewichtsverlagerungen und einen angenehmen Beinschluss, nur die Fußrasten könnten ein klein wenig größer ausfallen.
Die gute Verarbeitung, Leistung und der auf Haltbarkeit gebaute wuchtige Motor können bei der Honda begeistern. Doch wo bekommt man das gute Stück? Honda bietet die neue XR leider nur ohne Zulassung an. Mit der Einzelabnahme kommt man dann schnell auf rund 14.000 DM, und eine Reihe von Vertragshändlern scheut sich ein wenig davor. Eine günstigere Alternative bietet der Parallelimporteur, der auch das Testmotorrad stellte. Für 13.299 DM inklusive TÜV und Werksblinker ist die Honda bei der Firma ZTK Erlebniswelt Motorrad in Schneverdingen (Tel. 05193/964301) zu erwerben. Über die zukünftige offizielle Leistungseintragung konnte jedoch noch keine Angabe gemacht werden.
Wer die Honda nicht für den reinen Sporteinsatz kauft, und das sollte ja wohl auf den Großteil der Käufer zutreffen, sollte auf einen höheren PS-Eintrag im Brief achten. Man kann sich da eine Menge Ärger ersparen und mit einem guten Gewissen fahren. (Wer hatte früher seine XR 600 schon mit 17 PS gefahren…) Für Soziuspeiniger soll übrigens auch eine Zweimannzulassung möglich sein.