aus bma 3/00

von Marcus Lacroix

Männer stehen auf dicke Dinger – vor allem wenn sie nackt sind! Mit euphorischen Reden und leuchtenden Augen wird untereinander davon erzählt, wenn man wirklich mal auf eine rauf durfte. Psychologen und Evolutionsforscher könn- ten bestimmt erklären wie es dazuHonda X-eleven kam, dass die kleinen handlichen Dinger, die ja eigentlich viel mehr Vorteile für sich verbuchen können, in der Männergunst eher die zweite Geige spielen. Frauen, von Haus aus ja meist weniger stark mit animalischen Trieben behaftet, erkennen diese Vorteile eher und stehen dicken Dingern daher oft ablehnend gegenüber. Zu groß, zu schwer und unhandlich lautet die Diagnose. Wovon hier die Rede ist? Ist doch klar – Motorräder natürlich. Schließlich haltet ihr eine Motorradzeitschrift in den Händen.
Das dicke Ding das wir Euch diesmal präsentieren ist die neue Honda X-eleven, ein 137 PS starkes und ziemlich nacktes Schwergewicht, das uns ein Honda-Vertragshändler für einige Tage zur Verfügung gestellt hat. Über den Sinn eines solchen Motorrades zu sinnieren, kann man sich wohl getrost sparen – wie gesagt, 137 Pferdestärken und keine Verkleidung! Hinzu kommt eine Optik, die – milde ausgedrückt – für einigen Diskussionsstoff in der Szene sorgt.
Die bekannten Nackträder auf dem Motorradmarkt lehnen sich meist an klassische Vorbilder an, und die Hersteller fahren mit der Taktik nicht schlecht. Yamahas XJR, Suzukis Inazuma (offiziell GSX 1200) und Kawasakis ZRX sind Motorräder, die man doch des öfteren auf unseren Straßen sieht. Designtechnische Ausrutscher, denen letztlich der Erfolg aber nie verwehrt blieb, kannte man ja bisher eher von BMW. Honda geht den gleichen Weg und versucht die neuen Techniken in der X-eleven mit einem neuen Design zu verbinden. Dabei hätte man nur auf die bildschöne, aber leider nicht offiziell nach Deutschland importierte CB 1300 zurückgreifen müssen. Ob es Honda mit Motorrädern wie der X-eleven gelingen wird, den bis zum Jahr 2005 angestrebten Marktanteil von 50 Prozent zu erkämpfen, wird letztendlich der Käufer entscheiden.

 

Lösen wir uns zunächst vom Design und wenden uns der Technik zu. Der Motor ist ein alter Bekannter. Seit einigen Jahren verrichtet er zuverlässig und fast unkaputtbar in dem Honda X-elevenSporttourer CBR 1100 XX seinen Dienst. Natürlich wurde er für den Einsatz in der X-eleven modifiziert. Weniger Leistung bei gesteigertem Drehmoment und etwas mehr Charakter waren die Zielvorgaben der Marketingabteilung. Zur Charakterbildung wanderte eine der beiden Ausgleichswellen zurück ins Teileregal. Ob Vibrationen nun den Charakter stärken, wäre ein weiteres Streitthema. Im Fall der X-eleven nehmen die feinen Vibrationen, die man eigentlich nicht haben möchte, etwas zu, allerdings ohne im Landstraßenbetrieb die Besatzung zu nerven. Von einem Charakter-Vibrator à la Harley oder XS 650 ist die X-eleven jedoch weit entfernt, was bei einem Vierzylinder wohl auch niemanden wundert. Eine logischere Erklärung für die Amputation der zweiten Ausgleichswelle ist da schon die Reduktion der rotierenden Massen im Motor. Weniger Gewicht macht in der Regel schließlich beweglicher und so hat Honda es wirklich geschafft, aus dem guten XX-Motor den besseren X-eleven-Motor zu kreieren. Die fehlende Ausgleichswelle alleine ist es aber nicht, die für die kraftvolle Leistungsentwicklung sorgt. Da ist außerdem die computergesteuerte Einspritzanlage (Honda-Kürzel: PGM-FI), die zusammen mit der digitalen Kennfeld-Zündanlage und dem Klopfsensor für eine effektive Nutzung des Treibstoffs sorgen soll. Mit einem gut gestuften Fünfgang-Getriebe (statt sechs Gängen wie bei der XX) zollt Honda dem gesteigerten Drehmoment Tribut und ein Dreiwege-Katalysatorsystem (Honda-Kürzel für Abkürzungs-Fetischisten: HECS3 = Honda Evolutional Catalyzing System) beruhigt das grüne Gewissen beim lustvollen Spritabfackeln am Sonntagnachmittag.
Die technische Theorie wandelt sich im praktischen Einsatz zu einer unerschütterlichen Tatsache: der Motor des dicken Dings ist ein Gedicht! Natürlich braucht kein Mensch 137 Pferde unterm Hintern, aber mal ehrlich: kann denn Leistung Sünde sein? Der MotorHonda X-eleven macht einfach Spaß. Schnell sind die fünf Gänge durchgeschaltet und selbst dann wird jeder Dreh am Gasgriff in eine fulminante Vorwärtsbewegung umgesetzt. Schalten ist bei Fahrten auf der Landstraße schlicht überflüssig. Dass man es dennoch tut, hat einen einfachen Grund, denn besser als viel Schub im letzten Gang ist viel mehr Schub in den kleineren Gängen. Schiebt der Vierzylinder schon ab der Lehrlaufdrehzahl ordentlich an, so legt er bei rund 3000 und bei 6000 U/min jeweils noch einige Briketts nach. Dem Piloten zieht es die Arme lang und die Mundwinkel zu den Ohrläppchen. Angst macht die viele Leistung dabei nie, denn sie lässt sich jederzeit ausgezeichnet dosieren. Selbst regennasses Granitpflaster kann den Fahrer nicht erschüttern. Die Kraft und die Herrlichkeit eines dicken Vierzylinders, die den Autor schon bei Kawas ZRX in ihren Bann zog, wird von der X-eleven nochmals übertroffen. Keine Frage, die dicke Honda lebt von ihrem Motor und dieser drängt die anderen Komponenten in den Hintergrund.
Dabei brauchen sich diese gar nicht zu verstecken. Auffällig – vor allem anderen – ist zunächst der fette Aluminium-Brückenrahmen, der Gedanken an mögliche Fahrwerksschwächen schon optisch im Keim ersticken will. Erst auf den zweiten Blick fällt neben dem geschraubten Rahmenheck, über das sich vor allem die Flex der Customizer freuen wird (ein zünftiger X-eleven Streetfighter wird wohl nicht lange auf sich warten lassen), die ungewöhnliche Art der Schwingenaufnahme ins Auge. Anders als bei der Doppel-X (und den meisten anderen Motorrädern) ist die Schwinge bei der X-eleven in einem zentralen Rahmengussteil gelagert. Laut Honda wird durch diese Konstruktion der Wechsel der Endloskette ohne Schwingenausbau ermöglicht. Für einen Lacher (oder ein Kopfschütteln) sorgt allerdings Hondas Pressetext zu diesem Thema: „Diese Modifikation in dieser Motorradsparte vermittelt dem Fahrer das richtige Kurvengefühl für die Kraft der Maschine und optimiert die […] Handlingeigenschaften bedarfsgerecht.” Aua, da hat die Phrasendreschmaschine wohl einen Aussetzer gehabt! Immerhin lässt sich das Federbein, über das sich die Schwinge abstützt, in der Vorspannung wechselnden Lasten anpassen. Auf eine Dämpfungseinstellung hat Honda verzichtet und uns dafür das Kürzel H.M.A.S. (Honda-Multi-Action-System) serviert, das für eine sensibel ansprechende Federung sorgen soll. So ganz hundertprozentig erfüllt es seine Aufgabe nicht, denn das Ansprechverhalten der Gabel setzt zumindest nicht gerade neue Maßstäbe.
Nichtsdestotrotz funktioniert das Fahrwerk der X-eleven im Alltag problemlos und überzeugt vor allem bei höheren Geschwindigkeiten mit einem guten Geradeauslauf. Zum Tragen kommt dieser Punkt allerdings erst auf der Autobahn, wenn der Fahrer des dicken Dings mal wissen will, was Schmerzen sind. Bis etwa 140 km/h bietet das voluminöse Cockpit einen recht passablen Windschutz, darüber wird es stürmisch. Die theoretische Endgeschwindigkeit von rund 240 km/h wird zwar erstaunlich schnell erreicht, doch zumindest der Thermokombiträger macht alsbald das Gas zu, da ihm die Luft ausgeht – der Winddruck trennt echte Männer von den Luschen. Die schweinehässliche Kühlerverkleidung (’tschuldigung, aber das musste mal gesagt werden) wirkt laut Honda bei der Autobahnbolzerei als Spoiler. Wer darauf wenig Wert legt, findet beim Team Metisse (Tel. 07191/302030) für 299 DM eine gefälligere Alternative. Auf der Landstraße verwöhnt die X-eleven durch ihr – für ihre Masse – wirklich handliches Fahrverhalten und eine stoische Ruhe, mit der sie durch norddeutsche Standardkurven gleitet. Kein Pendeln, kein Wackeln – auf nicht zu unebenen Pisten läuft die dicke Honda wie auf Schienen. Die Bridgestone Battlax BT 57 tragen das Ihrige dazu bei. Lediglich der Wendekreis könnte kleiner sein.
Honda X-elevenMuss der Fahrer mal den Anker werfen, leistet das Dual-CBS (Combined-Brake-System) ganze Arbeit. Es ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig, da man bei einer Bremsung die Räder nicht unabhängig voneinander verzögern kann, doch zumindest der normal sterbliche Motorradfahrer profitiert im Alltag davon. Unangenehm wird es, wenn man sich angewöhnt hat, fast nur vorne zu bremsen und die Hinterradbremse nur selten bei Bedarf einzusetzen. Im aktuellen Fall ankerte der Autor vorne schon recht kräftig. Der Tritt aufs Pedal aktivierte dann weitere Bremsleistung in der vorderen Anlage, die daraufhin das Rad blockierte. Fazit: auch der Umgang mit dem CBS will gelernt sein, da es nicht mit einem ABS zu vergleichen ist!
So gewöhnungsbedürftig wie das CBS ist auch die Sitzposition. Der riesige Tank der Honda, der allerdings nur unspektakuläre 22 Liter Normalbenzin bunkert, spreizt dem Fahrer die Beine weit auseinander. Zumindest bei 176 Zentimetern Körperlänge passt der Knieschluss zum Blechfass. Größere Fahrer werden nicht nur mit den Ausbuchtungen im Tank hadern, sondern auch den engen Kniewinkel kritisieren. Dafür müssen sie sich nicht so sehr über den langen Tank strecken wie kurzgewachsene Zeitgenossen. Auch die harte Sitzbank wird nicht jedem gefallen, störte uns allerdings nicht weiter. Der Soziusplatz ist knapp bemessen, aber hier gibt es deutlich schlechtere Sitzgelegenheiten.
Bei der Ausstattung der X-eleven konnten sich die Honda-Techniker und die Rotstift-Bürokraten auf keine einheitliche Linie einigen. Auf der Haben-Seite kann die dicke Honda neben dem schon erwähnten Dreiwege-Kat und den überzeugenden Fahrleistungen einen sehr lobenswerten Hauptständer und – das ist neu im Motorradsektor – eine vom Automobil bekannte Wegfahrsperre mit codiertem Zündschlüssel (Abk.: H.I.S.S. – Honda Ignition Scurity System) vorweisen. Der guten Verarbeitungsqualität steht das bekannt schlechte Bordwerkzeug gegenüber und das gute Fernlicht tröstet nicht über das schwache Abblendlicht hinweg. Im Cockpit fehlen leider eine Zeituhr und ein zweiter Tageskilometerzähler, welche sich – wie bei anderen Herstellern weit verbreitet – problemlos in die vorhandene Kilometeranzeige integrieren lassen würden. Besonders ärgerlich ist der fehlende Hinterrad-Innenkotflügel. Bei Regen ferkelt sich die dicke Honda von oben bis unten mit graubraunem Straßendreck ein. Ebenso är- gerlich sind die Serviceintervalle, die Honda alle 6000 Kilometer vorschreibt. Zwar wird eine Zwei-Jahres-Garantie gewährt, allerdings setzt diese regelmäßige Werkstattbesuche voraus. Wahrscheinlich ist dies aber die einzige Möglichkeit, die Honda bleibt, um den Vertragshändlern bei einem Verkaufspreis von erträglichen 18.500 DM noch eine Verdienstmöglichkeit einzuräumen. Als lieferbare Farben stehen dabei „Mute Schwarzmetallic”, „Candy Blazing Rot” und „Candy Tahitian Blau” – sprich schwarz, rot und blau – zur Verfügung.
Wer sich für dicke Dinger interessiert, sollte die neue Honda X-eleven auf jeden Fall mal zur Probe fahren. Auch wenn die Optik auf den ersten Blick viele vielleicht abstößt, so hat der Brummer eindeutig seine Qualitäten. Und Schönheit liegt bekanntlich ja im Auge des Betrachters.