aus bma 11/99

von Klaus Herder

Es steht im Duden. Und zwar im Fremdwörterbuch, fünfte Auflage 1990, Seite 813, ganz unten rechts. Vigor (lateinisch), der: Lebenskraft, Rüstigkeit, Stärke. Das alles klingt etwas nach munterem Rentner und der Kraft der zwei Herzen. Doch die Presse-Info zur HondaHonda Vigor 650 Vigor 650 (DIE Vigor, denn Frauen, Schiffe und Motorräder sind weiblich) weiß es besser: Von einem „brandneuen Streetbike” ist die Rede. Brandneu? Nun ja, den luftgekühlten Einzylinder-Motor kennen wir bereits seit über zehn Jahren. So lange treibt der kurzhubige Vierventiler bereits die Honda Dominator an. Tja, dann ist eben der Rest brandneu. Oder auch nicht. Rahmen, Räder, Bremsen – das alles wurde in gleicher Kombination bereits 1997 und 1998 angeboten. Es hieß nur etwas anders: SLR 650.
Die SLR vermarktete Honda damals als „City-Bike”, doch das ging gründlich daneben. Der Versuch, dem dynamischen Yuppie ausgerechnet eine hochbeinige und einigermaßen biedere 650er für den Kurzstreckenverkehr zu verkaufen grenzte an das Bemühen, den Eskimos Kühlschränke zu verkaufen.
Nun folgt also der zweite Versuch. So ganz vom City-Image möchten sich die Honda-Werbestrategen dann aber doch nicht trennen. Zum Designkonzept verrät uns die Presse-Info im schönsten Marketingdeutsch folgendes: „Robuste Streetracerqualitäten signalisieren dabei die unter dem Sitz hervorragenden Schalldämpfer aus hochglanzpoliertem Edelstahl, während der große Scheinwerfer, das kleine, sportliche vordere Schutzblech und ein elegantes High-Tech-Cockpit ihren urbanen Charakter unterstreichen.” Oha, ein High-Tech-Cockpit unterstreicht den urbanen Charakter – wer hätte das gedacht. Was da so unheimlich hightechig sein soll, ist vermutlich der Drehzahlmesser. Den gab es an der SLR nämlich nicht, die Vigor hat ihn serienmäßig. Und die Japaner setzten noch eins drauf und montierten eine „Halbverkleidung für Wind- und Wetterschutz im intensiven Stadtbetrieb” (O-Ton Honda). Abgesehen davon, dass wir uns unter einer Halbverkleidung bislang etwas anderes vorgestellt haben, dürfte das oberhalb des Scheinwerfers montierte Mini-Plastikschild beim Ampelstopp im strömenden Regen oder beim Durcheilen großstädtischer Pfützen nur wenig Schutz bieten. Aber das Teil ist neu und somit eine Erwähnung wert.

 

Honda Vigor 650Der Fahrersitz ist so geschickt geformt, dass kurze Menschen (mit kurz sind Werte um einssiebzig gemeint) die Füße sicher auf den Boden bekommen und lange Fahrer (lang ist alles über einsneunzig) trotzdem bequem sitzen. Zu schwer sollte der Vigor-Fahrer aber nicht sein, denn das vordere Polster verträgt Belastungen über 85 kg nur relativ kurzfristig, als Sitzgelegenheit dient dann ungewollt der Sitzbank-Rahmen. Zu zweit wird es zudem auch etwas eng. Der Sozius freut sich zwar über die zwei stabilen Haltegriffe, rutscht mit dem Allerwertesten aber zu weit in Richtung Gepäckträger. Der ist übrigens serienmäßig, aus Kunststoff und abnehmbar.
Um die 39 Pferdestärken der Vigor zum Galoppieren zu bringen, bedarf es keiner großen Anstrengungen. E-Starter, lenkerfester Chokehebel, problemloses Startverhalten, sehr kurze Warmlaufphase – der Single benimmt sich völlig pflegeleicht. Kuppeln und Rühren im kurz übersetzten Fünfganggetriebe klappen ebenfalls ohne große Anstrengung.
Was im Fahrbetrieb bereits auf den ersten Metern angenehm auffällt, ist die extreme Handlichkeit der Vigor. Mit 13 Litern Normalbenzin vollgetankt wiegt die Fuhre gerade mal 180 Kilogramm. Der Lenker ist fürs freche Kurvenschwingen breit genug und goldrichtig montiert, die Fußrasten sind fürs lässige Herumlümmeln ausreichend weit entfernt, und die Aussicht ist dank 85 Zentimetern Sitzhöhe ganz hervorragend. Zur Vigor fassen auch Anfänger sofort Vertrauen, sie hat nichts Bedrohliches. Klassisch mit Knieschluß ums Eck pfeifen klappt mit der knuffigen Honda genauso wie enduromäßiges In-die-Kurve-Drücken. Übermäßig viel Kraftaufwand ist dafür nicht erforderlich, die 650er schwenkt fast von allein um Biegungen aller Art und fällt förmlich in die Kurven.
Honda Vigor 650Kupplungshand und Schaltfuß haben dabei zumindest auf kurvigen Landstraßen immer kräftig zu tun. Unter 2500 U/min ruckt der Eintopf nur unwillig an der Kette, über 6000 U/min geht’s nur noch zäh voran. Die Höchstleistung von 39 PS liegt bei 5750 U/min an, das maximale Drehmoment von 54 Nm stemmt der Vierventiler bei 4500 U/min – das nutzbare Drehzahlband fällt damit recht übersichtlich aus. Vor allzu fiesen Einzylinder-Vibrationen braucht der Besatzung dabei nicht bange zu sein. Eine Ausgleichswelle sorgt dafür, dass die gemeinsten Spitzen nicht durchkommen. Übers Arbeits- und Konstruktionsprinzip herrscht dennoch nie Unklarheit. Lange Autobahnetappen mit gleichbleibender Geschwindigkeit werden mit eingeschlafenen Händen nicht unter einer Stunde bestraft. Zu schlimm kann’s aber nicht werden, denn nach rund 200 flotten Kilometern geht’s dem Tank an die Reserve und spätestens drei Liter weiter sollte eine Tankstelle in Sicht kommen. Macht unterm Strich vier bis fünf Liter Verbrauch – eher vier, wenn man es bei gesetzeskonformer Landstraßengangart belässt und nicht permanent die rund 160 km/h Vmax ausreizt.
Für die in „Sparkling Red” (Signalrot) oder „Prime Metallic Blue” (Dunkelblau) lieferbare Vigor verlangt Honda 8990 Mark inklusive Nebenkosten. Das ist der gleiche Tarif, der auch schon für die etwas weniger gut ausgestattete SLR aufgerufen wurde. Damit ist die Vigor fast 1400 Mark günstiger als die motormäßig eng verwandte Dominator aus gleichem Haus und fast 3700 Mark billiger als die durchaus vergleichbare BMW F 650. Die Vigor ist also ein echtes Sonderangebot.
Dass aber auch Honda nicht zaubern kann, merkt man beim Blick unters Kunststoffkleid: Honda Vigor 650„Mono-Back- bone-Rahmen” hört sich zwar toll an, ist aber nichts anderes als eine Einfachst-Konstruktion aus zusammengeschweißten Stahlprofilen, die gleichzeitig als Rahmen und als Öltank der Trockensumpfschmierung dient. Das Teil ist stabil, eine Augenweide ist es nicht. Das Showa-Zentralfederbein, die konventionelle Te- legabel und die von Brembo stammende Bremsanlage sind alles Zulieferteile, die unter normalen Be- dingungen ganz ordentlicht funktionieren, über das Qualitätsurteil „durchschnittlich” aber nie hinauskommen. Besonders das im Soziusbetrieb hoffnungslos überforderte Federbein wird von ambitionierten Vigor-Treibern spätestens nach der ersten Saison durch ein qualitativ hochwertigeres Teil ersetzt. Zusammengesteckt wird die Vigor übrigens in Spanien.
Trotzdem: Unterm Strich ist die Honda Vigor 650 ein sehr faires Angebot und für Menschen interessant, die einfach nur Motorrad fahren möchten und aus ihrem Zweiradhobby nicht unbedingt eine Philosophie machen müssen. Fürs problemlose Austoben am Sonntagmorgen auf der Landstraße, für den Kurztrip zur Oma oder als Zweitmopped für alle Tage taugt die Vigor allemal. Für Anfänger ist sie eine gute Alternative zum Gebrauchtbike, und Wiedereinsteiger werden mit ihr ab der ersten Minute unkomplizierten Fahrspaß haben.
Wenn Honda das unsägliche City-Bike-Geschwafel sein lässt, wird sich der neue alte Eintopf vielleicht sogar ganz gut verkaufen. Das Teil kann jedenfalls viel mehr, als nur in der Stadt herumzuhängen.