aus bma 8/12
von Klaus Herder

Honda CrossTourer mit SoziusDer zweite Sieger ist der erste Gewinner: So muss wohl – leicht abgewandelt – eine altbekannte Maxime lauten, wenn es um die Wettbewerberinnen der BMW R 1200 GS geht. Am Platzhirsch-Status der bayerischen Rei­seenduro aus Berlin-Spandau gibts vermutlich in absehbarer Zeit nichts zu rütteln.

Für die Konkurrenz kann es eigentlich nur darum gehen, wer Zweiter wird. Im vergangenen Jahr brachte BMW hierzulande exakt 6120 Exemplare des Stelzen-Boxers unters Volk. Die Yamaha Super Ténéré, direkte Wettbewerberin und 2011 Nummer zwei bei den großvolumigen Reise-Grobstollern, brachte es im gleichen Zeitraum auf 948 Stück. Bis einschließlich Mai 2012 sieht die Zulassungs-Hitparade aus nicht-bayerischer Sicht ähnlich frustrierend aus. BMW R 1200 GS: 3807 Stück und damit unangefochten Nummer eins unter allen Motorrädern; Yamaha Super Ténéré: 252 Stück. Da tröstet es nur wenig, dass es die neue Triumph Tiger Explorer auf immerhin 478 Zulassungen brachte und Honda für die ebenfalls neue Crosstourer sogar 551 Neuzulassungen vermelden konnte.

Doch es gibt sie: Die Motorradfahrer, die trotz aller unbestreitbaren GS-Vorteile partout keine BMW haben möchten. Sei es, weil sie das Design nicht mögen, oder sie der Boxer mit seiner Omnipräsenz einfach nur nervt. Oder weil ihnen der doch recht selbstbewusste BMW-Auftritt nicht passt. Oder aber auch, weil sie die vermeintliche BMW-Zuverlässigkeit und Wartungsfreundlichkeit für verklärte Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen halten. Womit wir wieder bei der VFR 1200 X, kurz Crosstourer wären, mit der der weltgrößte Motorradhersteller einen gänzlich anderen Weg als alle anderen Wettbewerber einschlägt, um in der „GS-Klasse“ ein paar Maschinen unters reiselustige Volk zu bringen.

Honda CrossTourer Im Unterschied zu Triumph, die mit der Tiger Explorer einen dreizylindrigen GS-Klon auf die Räder stellten, setzte Honda auf ein Konzept, das gar nicht erst den Anspruch hat, der R 1200 GS bei der nächstbesten Afrika-Durchquerung davonzufahren. Die Wüsten- und Dschungel-Nummer können andere, vor allem leichtere Modelle mittlerweile deutlich besser als die Moppel der Ü-1000-Kubik-Klasse. Die Dampfer laufen zwar noch unter der Flagge „Reiseenduro“, doch „Reise“ ist bei ihnen längst das alles beherrschende Thema. Der Zusatz „Enduro“ dient meist nur noch der Imagepflege – „Ich könnte, wenn ich wollte“. In der Praxis wird bestenfalls mal ein unbefestigter Alpenpass unter die sehr moderat profilierten Stollenreifen genommen. Und das auch nur alle Jubeljahre.

Honda hat ziemlich klare Vorstellungen, wie der typische Crosstourer-Kunde aussieht: ein erfahrener Motorradfahrer, Durchschnittsalter 45 Jahre (Altersgruppe 35 bis 60 Jahre), 95 Prozent Männer, jährliche Fahrleistung 4000 bis 8000 Kilometer. Zehn Prozent der Kunden sind vermutlich Wiedereinsteiger, 35 Prozent Neukunden – und satte 55 Prozent sind so genannte „Loyalisten“, also Menschen, die auch bisher schon Honda gefahren sind. Und zwar oftmals eine Varadero oder auch eine VFR. Ein Motorrad also, das mit einem kultivierten V-Motor, völlig problemloser Bedienung, absoluter Berechenbarkeit und viel (Langstrecken-)Komfort trumpfen konnte. Wie schön, dass man ein als Basisgerät durchaus passendes Modell bereits im Programm hatte: die VFR 1200 F. Der bärenstarke und dabei kultivierte V4-Motor samt Kardanantrieb, das optional erhältliche, den Automatikbetrieb ermöglichende Doppelkupplungsgetriebe DCT und die stabilen (Alu-)Rahmenbedingungen waren viel zu schade, um in nur einem Modell zu glänzen. Und so wurde aus dem Sporttourer VFR 1200 F, den es in modellgepflegter Form auch weiterhin gibt, die Reiseenduro VFR 1200 X, die anfangs die Bezeichnung Crosstourer als Nachnamen trug, mittlerweile aber auch in offiziellen Honda-Unterlagen nur noch Crosstourer heißt.

Honda CrossTourer  Cockpit

Um dem 1237 cm³ großen und im Original muntere 173 PS starken 76-Grad-V4-Motor mehr Schmalz im unteren und mittleren Drehzahlbereich zu verpassen, legten sich die Honda-Techniker mächtig ins Zeug. Mit zahmeren Steuerzeiten, längeren und dünneren Ansaugstutzen, kürzeren und dünneren Krümmern und einem komplett neuen Edelstahl-Schalldämpfer sowie einem geänderten Mapping der Kraftstoffeinspritzung trimmten sie den V4 auf Durchzug. Mit Erfolg: Wo bei der 2010er VFR 1200 F noch ein Drehmoment-Loch gähnte, sorgt bei der Crosstourer ein Drehmomentberg für Verzückung. Bei der Operation blieben zwar 44 PS auf der Strecke, doch die nun – immer noch reichlichen – 129 PS stehen bereits bei 7750/min an, die VFR 1200 F benötigt für ihren Spitzenwert satte 2250 Umdrehungen mehr. Ähnlich sieht’s beim maximalen Drehmoment aus: Während die Crosstourer ihre 126 Nm bereits bei 6500/min stemmt, liegen die 129 Nm der Straßenschwester erst 2250/min später an. Konsequenz im Fahrbetrieb: Die Reiseenduro nimmt dem Sporttourer in den einschlägigen Durchzugsprüfungen Zehntelsekunden und entsprechende Meter ab. Und auch im Kreise der Reiseenduro-Wettbewerberinnen schaufelt keine andere mehr Newtonmeter auf die Kurbelwelle. Am ungewöhnlichen Motor-Layout – die äußeren Zylinder zeigen nach vorn, die beiden mittleren nach hinten – und den eine sehr kompakte Bauweise ermöglichenden Unicam-Vierventil-Zylinderköpfen (jeweils nur eine Nockenwelle, Einlasssteuerung über Tassenstößel, Auslass über Rollenkipphebel) änderte Honda nichts. Dafür bestand auch keine Veranlassung, die Technik ist ausgereift und wartungsarm – das Ventilspiel muss nur alle 24000 Kilometer kontrolliert werden.

Honda CrossTourer mit original Honda KoffersystemDoch nicht genug damit, dass aus einem ordentlichen Sporttourer-Motor ein faszinierender, ab dem ersten Meter kernig antretender, über den gesamten Drehzahlbereich sauber abliefernder und nahezu ohne spürbare Vibrationen laufender Reiseenduro-Motor gestrickt wurde. Auch beim Rahmen griffen die Entwickler auf eine solide Basis zurück. Das Fahrwerk der Crosstourer hat zwar eine komplett andere Geometrie als die VFR-Schwester, nämlich einen längeren Nachlauf, einen flacheren Lenkkopf und längere Federwege, doch die imposanten Aluprofile von Rahmen und Schwinge stammen vermutlich aus der gleichen Gussform. Etwas andere Bearbeitung und die Kombination mit anderen Teilen machen den Unterschied.

Üppiger Motor, mächtiger Rahmen, fetter Kardan, breit bauender 21,5-Liter-Tank – da kommt unterm Strich eine ganze Menge zusammen. Konkret: 277 Kilogramm vollgetankt. Im Reiseenduro-Segment schwerer ist eigentlich nur noch die Moto Guzzi Stelvio (282 kg). Die auch nicht gerade als Leichtgewicht geltende Triumph Tiger Explorer wiegt immerhin acht Kilo weniger, bei der Yamaha Super Ténéré sind es dann schon zehn Kilogramm, und die R 1200 GS bringt sogar 33 Kilogramm weniger auf die Waage.

Honda-CrossTourer-2012_frontDoch die üppigen und schwerpunktmäßig eher hoch liegenden Honda-Pfunde beeinträchtigen das Handling nicht wie befürchtet. Im Gegenteil: Ist die Fuhre erst einmal in Fahrt, ist das Übergewicht kein Thema mehr. Locker und absolut neutral schwingt die angenehm schmal bereifte (110/80 R 19 vorn, 150/70 R 17 hinten) Crosstourer von einer Schräglage in die andere. Die Honda lenkt zielgenau ein und bleibt immer sauber auf Kurs. Die von Kayaba stammenden Federelemente machen dabei – zumindest im Solobetrieb – einen ordentlichen Job. Die Upside-down-Gabel spricht dann fein an, das etwas kerniger abgestimmte Federbein spielt ordentlich mit. Die Federwege fallen für Reise­enduro-Verhältnisse eher kurz aus (145/146 mm vorn/hinten). Kein Problem, denn ernsthafte Geländeambitionen hat die Dicke ohnehin nicht, und die Sache hat den Vorteil, dass die Crosstourer auch bei Topspeed ohne Wackelei ihre Bahn zieht. Das Ende der Tempo-Fahnenstange ist bei 209 km/h erreicht, dann greift der Speedcutter ein. Im Soziusbetrieb, mit voller Beladung und auf richtig miesem Belag kommen die Federelemente dann doch an ihre Grenzen. Das Federbein wirkt dann unterdämpft und fängt auf Bodenwellen oder in zügig genommenem Kurven zu pumpen an. Die Gabel erklärt sich solidarisch und reagiert auf rasch aufeinanderfolgende Störimpulse etwas stuckerig. Merke: Die Crosstourer ist eindeutig für schnelle Reiseetappen auf halbwegs ordentlichem Geläuf gebaut. Die Wühlerei auf bös zerfurchten Pisten überlässt sie lieber anderen.

Honda CrossTourer Modell 2012Wer das beherzigt, hat mit der Honda einen äußerst angenehmen Reisepartner, woran auch die komfortable Unterbringung einen gehörigen Anteil hat. Die einteilige Sitzbank ist zwar nicht höhenverstellbar, und 860 mm Sitzhöhe sind klassenüblich luftig, doch das langstreckentauglich straff gepolsterte Möbel ist im vorderen Bereich eher schmal geschnitten. Das beschert auch U-Einsachtzig-Menschen einen sicheren Stand.

Der eher schmale Lenker liegt gummigelagert weit entfernt auf hohen Risern, was für eine ziemlich aufrechte Sitzposition sorgt, die einem anfangs etwas entkoppelt vorkommen mag, auf Dauer aber bequem ist. Die Beine sind etwas weiter gespreizt als bei den meisten Wettbewerbern – der große Rahmen fordert Tribut – und hinterm nur fummelig mit Werkzeug zweifach zu verstellenden Windschild geht’s auch etwas luftiger zu als bei der Konkurrenz, doch unterm Strich ist der Crosstourer-Arbeitsplatz durchaus gelungen.

Die Spiegel bieten ordentliche Rücksicht, und das (Abblend-)Licht scheint hell. Das mit einer praktischen Ganganzeige bestückte Digital-Mäusekino liegt gut im Blick, doch zwei Kleinigkeiten nerven etwas: Die Balkenanzeige des Drehzahlmessers ist schlecht bis gar nicht zu erkennen. Und wer zwischen den diversen Anzeigen wechseln möchte, muss direkt ans Gerät greifen – eine Bedienung vom Lenker aus wäre weitaus praktischer. Der Soziusplatz ist dagegen über jeden Zweifel erhaben: viel Platz, goldrichtig montierte Fußrasten, große und solide Haltebügel – so muss das sein.

Fahrer und Sozius dürfen unter bestimmten Bedingungen ein Erlebnis teilen, das im Zeitalter moderner Kardantechnik zumindest auf dem Motorrad selten geworden ist: das Fahrstuhlfahren. Dafür sorgt die Kardan-Einarmschwinge ohne Momentabstützung. Wie bei alten BMW­-Zweiventilboxern hebt sich das Heck beim Beschleunigen und sackt beim Gaswegnehmen ab. Okay – nicht so stark wie damals, aber doch spürbar. Kein Problem, die Sache hat durchaus Charme, ist halt nur etwas gewöhnungsbedürftig.

Der Griff zur Kupplung verlangt für Honda-Verhältnisse erstaunlich viel Handkraft und auch das Rühren im Sechsganggetriebe erfordert – zumindest in den unteren drei Gängen – etwas mehr Nachdruck. Die rustikale Hand- und Fußarbeit lässt sich umgehen, wenn man auf den Listenpreis von 13490 Euro noch 1000 Euro draufpackt und das Doppelkupplungsgetriebe DCT („Double Clutch Transmission“) ordert. Das für zehn Kilo Mehrgewicht sorgende Teil ermöglicht das kupplungslose Anfahren und Schaltmanöver ohne Unterbrechung der Zugkraft. Der Fahrer kann die Gänge entweder manuell über Taster an der linken Lenkerarmatur wechseln oder im Automatikbetrieb unterwegs sein. Ein konventioneller Fußschalthebel ist bei der DCT-Option nicht dabei, lässt sich gegen Aufpreis aber gesondert ordern. Das zwei Fahrprogramme (Normal/Sport) bietende DCT funktioniert hervorragend, erhöht nochmals den Komfort und passt bestens zum famosen Motor. Wirklich notwendig ist es für Otto Normalreisenden aber nicht, denn das konventionelle Getriebe arbeitet tadellos und ist goldrichtig gestuft. Es lässt die Wuchtbrumme subjektiv noch etwas lebhafter erscheinen, die 1000 Euro und zehn Kilo lassen sich also ruhigen Gewissens sparen, wenn man es komfortmäßig nicht unbedingt auf die Spitze treiben möchte oder ein Handycap hat.

Zur Serienausstattung der in Rot, Silber, Schwarz und Weiß lieferbaren Crosstourer gehört neben einer abschaltbaren Traktionskontrolle ein nicht abschaltbares ABS samt Kombibremse. Damit ankert die Honda knackig, kraftvoll-effektiv und toll dosierbar. Der Tritt aufs Pedal aktiviert neben der Hinterradbremse auch einen Kolben im linken vorderen Dreikolben-Sattel. Mit dem Handbremshebel wird ausschließlich der vordere Stopper zur Arbeit überredet. Fein integrierte, sehr unauffällige Kofferträger sind ebenfalls serienmäßig an Bord, für die sehr soliden und großen (39/35 Liter) Koffer verlangt Honda allerdings fette 1330 Euro. Hauptständer (228 Euro), Bordsteckdose (122 Euro) und Heizgriffe (331 Euro) sind weitere Zubehör-Optionen. Schutzbügel, hohes Touren-Windschild, Nebelscheinwerfer und diverse weitere Tourenfahrer-Leckerlis sind ebenfalls zu bekommen. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Crosstourer im Serienzustand kein Ausstattungswunder ist. Das lässt sich verschmerzen, denn dafür ist die bärenstarke Japanerin tadellos verarbeitet und auch im Detail toll gemacht. Rund 1500 Stück möchte Honda 2012 hierzulande verkaufen. Ein durchaus optimistisches, aber nicht utopisches Ziel; denn besonders der herrlich starke, wunderbar abgestimmte und dabei noch toll klingende V4-Motor ist ein ganz starkes Argument, um in der GS-Klasse eben nicht zur GS zu greifen. Der zweite Platz, der ja eigentlich ein erster ist, liegt für die Crosstourer jedenfalls in greifbarer Nähe.