aus bma 06/03

von Klaus Herder

Honda CBR 600 RRDer französische Honda-Fahrer Fabien Forêt ist der amtierende Weltmeister der Supersport-Klasse. Jener Klasse also, in der seriennahe 600er-Vierzylinder gegen 750er-Zweizylinder antreten. In den Presse-Infos zur Honda CBR 600 RR steht davon aber kein einziges Wort. Dafür wird aber an allen möglichen und auch unmöglichen Stellen die Verwandtschaft zur RC 211V betont. Das ist das fünfzylindrige 990-ccm-Arbeitgerät von Valentino Rossi, der bekanntlich sehr erfolgreich in der MotoGP-Klasse angast.
Wie kommt’s, dass Hondas PR-Profis den Supersport-Titel so geflissentlich verschweigen? Vielleicht liegt es daran, dass Herr Forêt den Titel nur mit sehr viel Glück – einige Insider sprechen von unfairen Tricks – erringen konnte. Nach einem eher harmlosen Sturz beim Chaos-Rennen in Brands Hatch mimte er den sterbenden Schwan und blieb einfach auf der Strecke liegen. Damit provozierte er einen Rennabbruch, der ihm genügend Zeit gab, auf die Ersatzmaschine zu steigen und die 20 Punkte einzufahren, die ihm zum Titel reichten. Ohne diese Showeinlage wäre übrigens ein Suzuki-Fahrer Weltmeister geworden. Die Hersteller-Wertung ging aber auch so an Suzuki.
Honda CBR 600 RRDas ganze Theater in der Supersport-WM war symptomatisch für Hondas bisherige Rolle in der Szene der supersportlichen 600er. Objektiv betrachtet konnte die CBR 600 auf der Rennstrecke zwar immer ganz vorn mitmischen, doch so richtig viel Glück brachte das imagemäßig nicht. Die Serienmaschine CBR 600 F und ihre eher halbherzig auf Supersport getrimmte Schwester CBR 600 FS (wesentliche Unterschiede der 2001 und 2002 angebotenen Maschine: fehlender Hauptständer und Einzelsitze statt Sitzbank) waren für die Speed-Junkies immer ein Tick zu brav, zu alltagstauglich und zu bequem. Die CBR war einfach zu gut für die mittelschwer masochistisch veranlagte Knieschleifer-Fraktion. Wer in der 600er-Klasse etwas Böses haben wollte, griff lieber zur Yamaha YZF-R6 oder Kawasaki ZX-6R.
Die Honda-Verantwortlichen hatten nach über 15 Jahren CBR-Bauzeit aber nun endgültig die Nase voll, bestätigt zu bekommen, dass sie wohl die beste 600er, aber eben nicht die geilste 600er bauen würden. Erschwerend kam hinzu, dass in gar nicht so ferner Zukunft ein reinrassiges Renngerät benötigt wird, mit dem man in einer viertaktenden GP2-Klasse (die in der WM vermutlich die 250er-Klasse ersetzten wird) an den Start gehen kann. Mit einer Radikalität, die vermutlich nur japanische Ingenieure eigen ist, gingen sie das Projekt CBR 600 RR an. Bis auf das Grundkonzept (flüssigkeitsgekühlter Vierzylinder-Reihenmotor) und den Werten für Bohrung und Hub (67,0 und 42,5 mm) blieb nichts unverändert. Die RR ist eine komplette Neukonstruktion, bei der keine große Rücksicht auf Alltagstauglich genommen werden musste. Das Motto lautete „Massenzentralisierung”. Bauteile, Betriebsmittel und nicht zuletzt der Fahrer sollten möglichst eng an den Schwerpunkt heranrücken. Fahrwerksoptimierung und natürlich Leistungssteigerung waren weitere Ent- wicklungsziele

Um den Motor schmaler zu bekommen, verlegten die Honda-Techniker den Anlasser von der linken auf die rechte Seite. Dadurch konnte die Lichtmaschine weiter nach innen rücken. Das brachte schon mal 22 Millimeter und auf jeder Seite drei Grad mehr Schräglagenfreiheit. Dem 16-Ventiler ging’s auch kräftig an die Länge. Die Getriebehauptwelle wurde eine Etage höher verlegt, die Auslasskanäle wurden stärker abge- winkelt und die Auspuffanlage enger ans Motorgehäuse verlegt. Das erlaubte, den ganzen Motor 9 mm weiter nach vorn zu setzten und die Schwinge 43 mm zu verlängern.
Leichtere Schmiedekolben, ultradünne Kolbenringe (0,8 mm), leichtere Kolbenbolzen und eine mutterlose Pleuelbefestigung sorgen dafür, dass pro Zylinder 35 g weniger Masse bewegt werden müssen. Das Ergebnis: Der Motor wurde noch drehfreudiger, die Nenndrehzahl stieg von schon nicht gerade niedrigen 13.500 U/min der CBR 600 F auf sagenhafte 15.000 U/min. Bei einer solchen Drehzahl öffnet und schließt jedes Ein- und Auslassventil 125 Mal pro Sekunde. Das ist ein Tempo, bei dem eine normale Einspritzanlage nur schwer hinterherkommt. Der eingespritzte Kraftstoff hat keine Zeit und keinen Platz, um sich mit der einströmenden Luft vollständig zu verbinden, ein optimales Gemisch ist dann eher Glückssache. Honda löste das Problem durch den Einbau eines zweiten Satzes von 12-Loch-Einspritzventilen. Je ein zusätzliches Ventil über den Ansaugtrichtern unterstützt die in den Saugrohren montierten Ventile. Die zusätzlichen Ventile schalten sich ab 6000 U/min zu und dienen praktisch als „Voreinspritzung”. Das verbessert die Füllung, die Verbrennung erfolgt kontrollierter, und die 114 PS bei 13.000 U/min stehen nicht nur auf dem Papier.
Besonders stolz sind die Honda-Macher ausgerechnet auf ein eher unscheinbares Bauteil. O-Ton der Presse-Info: „Vielleicht die eindrucksvollste, wenn auch versteckteste konstruktive Änderung der neuen CBR 600 RR ist ihr komplett überarbeiteter und neu platzierter Kraftstofftank.” Keine Sorge, der Sprit schwappt nun nicht etwa im Rahmen wie bei der Buell, aber das, was auf den ersten Blick das Benzinfass sein könnte, ist nur eine Abdeckung. Den vorderen Platz darunter beansprucht das Luftfilter-Gehäuse, der 18-Liter-Tank kommt erst in der hinteren Hälfte und ist damit dem Fahrer und Schwerpunkt am nächsten. Nur das obere Drittel des Stahltanks sitzt über den Rahmenrohren, zwei Drittel reichen bis zur Oberseite des Motorgehäuses nach unten. Das ist unglaublich kompakt und entspricht tatsächlich dem Aufbau von Rossis RC 211V. Die unkonventionelle Unterbringung hat neben der besagten Massenzentralisierung den Vorteil, dass der Fahrer 70 mm näher in Richtung Lenkkopf rücken kann.
Womit wir bei der Sitzprobe wären. Im ersten Moment kommt man sich ungewöhnlich hoch untergebracht vor. Immerhin 820 mm Sitzhöhe sind es denn auch, und die höher und weiter hinten als bei der normalen CBR montierten Rasten und die sehr tief und in unmittelbarer Tankabdeckungsnähe montierten Lenkerhälften verstärken das Gefühl der angriffslustigen Tiefflieger-Haltung. Von der etwas trägen Bequemlichkeit auf der CBR 600 F bleibt nicht viel, die Handgelenke tragen die volle Last, alles ist unglaublich vorderradorientiert.
Das Startverhalten ist wie gewohnt völlig problemlos. Doch vor dem Druck aufs Knöpfchen läuft nach dem Einschalten der Zündung ein kleines Showprogramm ab: die Startroutine. Zur Begrüßung flammen alle LED-Kontroll-Leuchten kurz auf. Die Nadel des Drehzahlmessers schlägt voll aus und der Digital-Tacho zeigt den Höchstwert von 288 km/h. Nun schaltet sich die Kraftstoffpumpe hörbar ein, die Drehzahlmesser-Nadel fällt auf Null zurück, und der Tacho zählt rückwärts. Es kann losgehen.
Die Seilzug-Kupplung lässt sich sehr leicht betätigen, die Gänge des Sechsganggetriebes rasten butterweich und dabei exakt und auf kurzen Wegen ein. Von Hektik keine Spur, der Vierzylinder braucht nur dann Drehzahlen, wenn es darauf ankommt. Aber nicht im Stadtverkehr, dort lässt sich auch ohne Kupplungszauberei prima und ruckfrei leben. Die ausgesprochen angriffslustige Sitzposition verführt dann aber doch dazu, den Innerortsverkehr etwas zügiger als sonst hinter sich zu lassen. Freie Bahn und Gaaaas: Die vollgetankt immerhin 200 kg schwere Fuhre kommt selbst aus niedrigen und mittleren Drehzahlen erstaunlich flott aus dem Kreuz. Mit der RR fährt man fast wie mit einer 750er oder 1000er. Ihr Durchzugsvermögen ist phantastisch.
Von Vibrationen keine Spur, der Sound, der der unterm Heck endenden Vier-in-zwei-in-eins-Ausfuffanlage entweicht, ist anfangs eher unspektakulär. Ab 6000 U/min liegt richtig Druck an, ab 10.000 U/min (und damit noch satte 5000 Touren vorm Begrenzer!) wird’s schön böse – und das auch soundmäßig. Die mit einem geregelten Katalysator plus Sekundärluftsystem bestückte RR kennt keinen Durchhänger, keine Kunstpause, sie dreht und dreht und dreht. Vorausgesetzt, der Mensch am Gasgriff kennt nicht nur die digitale Arbeitsweise „Gas auf, Gas zu”. Hektik am Quirl bestraft die Einspritzanlage nämlich mit deutlich spürbaren Lastwechselreaktionen. Wer schön smooth an der Kordel zieht, hat am meisten Spaß und kommt äußerst flott voran. 0 auf 100 in 3,1 Sekunden, in unter 10 Sekunden auf 200, echte 260 km/h Spitze – bitte nicht vergessen: Es ist hier von einer 600er die Rede.
Doch schnell sind andere 600er auch. Was den besonderen Reiz der CBR 600 RR ausmacht, ist ihr kompromissloses Handling. Die Doppel-R benimmt sich wie eine Rasierklinge: Genau dort, wo man sie ansetzt, zieht sie auch gnadenlos durch. „Zielgenau” trifft die Sache nur unzureichend. Superschnelle Richtungswechsel sind mit ihr ein einziger Genuss. Die spezielle Rahmenkonstruktion trägt sicherlich ihren Teil dazu bei. Zwar verstärkten die Honda-Techniker den Lenkkopfbereich, doch in der Nähe des Rahmenmittelpunktes reduzierten sie die Torsionssteifigkeit des Aluguss-Brückenrahmens eher etwas – eine weitere Parallele zur RC 211V-Konstruktion. Ein zu steifer Rahmen ist nämlich bei schnellen Richtungswechseln und besonders auf unebenem Fahrbahnbelag anfällig dafür, Störungen aufzunehmen und ungefiltert wieder abzugeben – was für Unruhe im Fahrverhalten sorgen kann. Eine gewisse Flexibilität ist daher durchaus von Vorteil.
Die üppig dimensionierte 45er-Telegabel und das in die nicht minder eindrucksvolle Schwinge integrierte Zentralfederbein stammen von Showa und lassen keinerlei Wechselwünsche aufkommen. Die voll einstellbaren Teile taugen gleichermaßen für den Sonntagmorgen-Landstraßensprint wie für das intensive Renntraining. Von komfortabel-straff bis kompromisslos-straff ist bei ihnen alles drin. Die Bremse ist eine typische Honda-Anlage: Die Nissin-Vierkolbensättel beißen hervorragend dosierbar und – entsprechende Handkraft vorausgesetzt – auch ziemlich heftig in die von 296 auf 310 mm vergrößerten Bremsscheiben.
Die 10.240 Euro teure CBR 600 RR ist vollgetankt gute 10 Kilo schwerer als ihre direkten Konkurrentinnen. Dafür wirkt alles an ihr ungemein robust und wertig, ihre Fahrleistungen liegen gleichauf oder sind sogar besser. Während mit der unverändert angebotenen und 700 Euro günstigeren CBR 600 F wirklich jeder Motorradfahrer völlig problemlos klarkommen kann, ist die Doppel-R ein Fall für Spezialisten, denn sie ist im normalen Betrieb unbequemer, sie ist soziusuntauglich (die Sitzabdeckung kostet frecherweise 209 Euro extra) und sie verzeiht weniger. Doch dafür lässt sich mit ihr wie mit einem Skalpell oder wie mit der besagten Rasierklinge arbeiten. Ihre freundliche Schwester ist dagegen eher ein praktisches Fahrtenmesser.