aus bma 10/08

Text: www.winni-scheibe.com
Fotos: Scheibe

Harley-Davidson Modell J Bj. 1929Freiheit ist das eine, Gesetzestreue das andere. Wer aus der Reihe tanzt, hat gleich die Sheriffs am Hals. Türmen hilft eh nichts. Die Cops auf ihren schweren Maschinen sind meist  schneller. Schon in den 20er Jahren werden Verkehrsrowdies mit Harleys  gejagt. Vor allem in Texas, in den anderen US-Staaten aber ebenso.

Das Schild am Ortseingang ist unübersehbar. In großen Lettern steht: „Herzlich willkommen in unserer schönen Stadt! Fahr vorsichtig und schau sie dir in Ruhe an. Fahr schnell und du lernst unser Gefängnis von innen kennen!” Für Raser und Verkehrsrowdies gibt es kein Pardon. Gnade dem, der erwischt wird. Die Geldstrafen sind deftig, wer es übertreibt, landet vorm Schnellrichter und mit etwas Pech sogar wenig später im Knast. In den 20er Jahren durften sich Motorradpolizisten wie echte Helden fühlen. Schon deswegen, weil längst nicht jeder genommen wurde. Nur die Besten kamen zur Verkehrsstreife. Sie mußten fit wie ein Turnschuh sein, dazu war die theoretische und praktische Ausbildung knüppelhart. Wer den Stoff nicht kapierte und das Bike nicht 100prozentig beherrschte, konnte gleich wieder nach Hause gehen. Motorradpolizisten gehörten zur Elite, sie waren stolz auf ihren Job und noch viel stolzer auf einer Indian oder Harley-Davidson Streife zu fahren.

Harley-Davidson Modell J Bj. 1929In den „goldenen Zwanzigern” zählten Indian und Harley-Davidson  zu den größten Motorradherstellern Nordamerikas. Für beide Edelschmieden war es nicht nur Pflicht, es war auch reine Prestigesache, Maschinen an Behörden und Polizei zu liefern. Eine bessere Werbung kann es schließlich kaum geben. Und die wurde Ende der 20er Jahre dringend nötig. Immer weniger Leute in den USA gaben Geld für Motorräder aus, und mit dem großen Börsenkrach am 25. Oktober 1929, dem sogenannten „schwarzen Freitag”, begann eine verheerende Weltwirtschaftskrise. Wer mobil sein wollte, kaufte sich lieber ein Auto. Eins von Henry Ford, denn der clevere Autobauer verscherbelte dank Fließbandproduktion seine  Vehikel kaum teurer als eine große Harley-Davidson.

Die Motor Company in Milwaukee glaubte dagegen auch weiterhin fest ans Motorrad. Mit einem gut ausgebauten Händlernetz, hervorragendem Service sowie lukrativen Finanzierungsangeboten hatte man sich in der Zulassungsstatistik sogar gerade vor den Erzrivalen Indian geschoben und war nun die Nummer eins auf dem amerikanischen Motorradmarkt. Spitzenmaschinen im Angebot waren die beiden V-2-Motorräder, das 1000er Modell J und  1200er Modell JD. Das 1200er Modell JD war zwar etwas stärker und auch gut 20 Stundenkilometer schneller, dafür kostete der Big-Twin aber auch rund 30 Dollar mehr. Und das war in dieser Zeit noch verdammt viel Geld.

 

Dabei war Motorradfahren in den USA längst nicht mehr ausschließlich Angelegenheit von den „Pionieren der Landstraße” oder gar eine günstige Transportmöglichkeit. Ein Auto konnten sich inzwischen etliche leisten, wer  dagegen sportlich auf Tour gehen wollte, fuhr Motorrad. Renn-sportveranstaltungen wurden groß geschrieben, dazu kam der kameradschaftliche Zusammenhalt unter den Bikern. Motorradfahren bedeutete aber auch Abenteuer und Freiheit, eine Lebenseinstellung, die viele Biker mit den Erinnerungen an die berühmte Wild-West-Zeit verbanden.   
So, oder jedenfalls so ähnlich, darf sich der Harley-Fahrer auf dem Modell J in Zivilausführung von 1929 fühlen. Die breite Lenkerstange liegt lässig in den Händen, die Stiefel stehen auf Trittbrettern und der Schwingsitz gibt dem Fahrer das Feeling auf einem Pferdesattel zu sitzen. Jedoch nicht so hoch wie auf einem Pferderücken, bei Stops erreichen beide Füße bequem den Boden. Das vermittelt dem Biker Vertrauen und Sicherheit für die gut 200 kg schwere Maschine. Durch den tiefen Einbau des 1000er V2-Triebwerkes in den stabilen Einrohrrahmen bekommt das Modell J zusätzlich ein ausgezeichnetes Handling. Rangieren und enge Kurven fahren werden mit der Harley zum Kinderspiel.
Harley-Davidson Modell J Bj. 1929Zum Markenzeichen der schweren Stahlrösser aus Milwaukee gehört bereits seit 1911 der gewaltige 45-Grad-V-2-Viertaktmotor. Aus 84,1 mm Bohrung und 88,9 mm Hub schöpft das Aggregat mit 988 ccm fast einen vollen Liter Hubraum, die Leistung liegt bei gut 20 PS bei 3000 U/min. Da der vordere Kolben ein Gabelpleuel hat, lassen sich die luftgekühlten Guß-Zylinder genau hintereinander anordnen. Bei der Ventilsteuerung vertrauen die Harley-Techniker auf das i.o.e -inlet over exhaust-System.  Von einer untenliegenden Nockenwelle mit vier Nocken werden über Schlepphebel, freiliegenden Stoßstangen und Kipphebel die im Zylinderkopf hängenden Einlaßventile be-tätigt, zwei weitere Schlepphebel sind für die Steuerung der stehenden Auslaßventile zuständig. Bei uns ist dieser Ventiltrieb unter der Bezeichnung „Wechselsteuerung” bekannt.

Ölpumpe, Lichtmaschine und Zündverteiler werden über einen Zahnrädersatz auf der rechten Steuerseite angetrieben. Die Gemischaufbereitung erledigt ein Schebler de Luxe-Vergaser.  
Bei der Motorschmierung steht das Thema Umweltschutz noch lange nicht zur Debatte. Sie erfolgt nämlich über eine Trockensumpf-Verlustschmierung. Das Öl wird nicht in den Tank zurückgepumpt, sondern im Motor mitverbrannt und über die Motorentlüftung zur Schmierung auf die Primärkette geleitet. Damit die Lagerstellen in allen Fahrzuständen immer genügend lebenswichtigen Schmierstoff abbekommen, ist die  lastabhängige Förderpumpe über einen Bowdenzug mit dem Gaszug verbunden. In der Praxis bedeutet das, bei Langsamfahrt bekommt der Motor wenig und bei zügigem Tempo entsprechend mehr Schmiermittel.   Zur Standard-Bauweise gehört die in einem separaten Blechkasten laufende Primärkette, die fußbetätigte Mehrscheibenkupplung und das direkt hinterm Motor in einem eigenen Gehäuse untergebrachte, handgeschaltete Dreiganggetriebe. Den Hinterradantrieb erledigt eine offenlaufende Rollenkette.

Bei der Fahrwerksausstattung pflegt man konservative Ansichten. Für Fahrkomfort sorgt vorne eine ungedämpfte Springergabel, hinten ist das Rad dagegen ungefedert. Fachleute sind sogar davon überzeugt, daß ein gefedertes Hinterrad die Straßenlage verschlechtern würde. Damit der Fahrer auf Bequemlichkeit aber nicht verzichten muß, ist der Schwingsattel über eine Teleskopfeder im hinteren Rahmenrohr komfortabel abgefedert. Im Harley-Werbeprospekt wird diese Ausführung als „Pfannensattel mit Feder-Sitzpfosten” beschrieben. Als „doppelte Sicherheit” wirbt Harley-Davidson 1928 erstmalig mit der Einführung einer Vorderradbremse. Hierzu gibt es allerdings auch gleich wieder etliche kritische Stimmen. Auf den vielfach sandigen Oberflächen der amerikanischen Highways könnte es durchaus passieren, warnten namhafte Sicherheitsexperten eindringlich, daß bei einer Vollbremsung das Vorderrad blockieren könnte und der Fahrer so zu Sturz kommen würde. Zum Glück hörten die Harley-Manager nicht auf diese Argumente und ließen bei allen gut 100 km/h schnellen großen Twins die Vorderradbremse in die Serie einfließen. Als Hinterradstopper dient weiterhin eine per rechtem Fuß betätigte Außenbandbremse. Nennenswerte Neuerungen für das Modelljahr 1929 sind die zwei „Ochsenaugen-Frontlampen”, so der original HD-Werbetext, ein neues Schaltbrett mit Ampéremesser sowie eine Reihe weitere Detailmodifikationen.

Harley-Davidson Modell J Bj. 1929Auf Sonderwunsch der Polizeiverwaltung des US-Staates Texas werden die bestellten Modell J-Dienstkräder in weiß ausgeliefert. Zusätzlich bekommt das Sheriffbike rote Zierstreifen und rechts und links auf den Tank  in dicker roter  Schrift „Texas Highway Patrol” auflackiert. Das „Martinshorn” sitzt unterhalb der Doppelscheinwerfer, womit die Unterschiede zur Zivilausführung schon aufgezählt sind. Bis Ende der dreißiger Jahre  leisteten die Maschinen bei der Texas High-way Patrol zuverlässig ihren Dienst, dann wurden sie ausgemustert und verkauft. Die Harley-Davidson mit der Fahrgestellnummer 29J 2478 ersteigert ein australischer Harley-Sammler, nimmt sie mit nach „down-under”, wo sich das Bike im nächsten halben Jahrhundert  ohne nennenswerten Schaden zu nehmen die Reifen platt steht.

Eigentlich wäre die Story hier zu Ende. Wenn nicht die Frage erlaubt wäre, wie kommt bitte schön solch eine seltene Maschine nach Deutschland. Da wäre zunächst wieder ein Harley-Sammler, diesmal aber Wolfgang Knitterscheidt aus Bad Nauheim. Auf der Suche nach einem Modell J aus den 20er Jahren wurde er Anfang 1999 in Sausalito bei San Franzisco bei einem kleinen Harley-Dealer fündig. Genau die Polizei-Maschine, die 50 Jahre in Australien gestanden hatte, war Anfang der Neunziger wieder zurück in die USA gekommen und stand nun nach obligatorischen Restaurationsarbeiten hier zum Verkauf. Der Preis für die über 70 Jahre alte, 100% originale Polizei-Maschine war angemessen und der Bericht von Interpol belegte, daß es sich nicht um ein gestohlenes Bike handelte. Eine Bestätigung, die für den Export nach Deutschland und die Zulassung bei uns von größter Wichtigkeit ist. Der Rest war Formsache. Seit einiger Zeit ist die „T.H.P.” angemeldet, läuft wie ein Uhrwerk und falls Wolfgang Knitterscheidt zufällig unterwegs einer Polizeistreife auf der Dienst-BMW begegnet, hebt er freundlich zum Gruß die linke Hand.