aus bma 4/99
von Frank Schmiester
„Schon wieder nach Frankreich? Und ausgerechnet in die Savoyen…?”. Alexandras Begeisterung für meine Urlaubspläne hielt sich in Grenzen. Zu deutlich war ihr wohl noch die Heimfahrt aus der Provence im Juni ’97 in Erinnerung. Damals fiel am kleinen St. Bernhard so viel nasser, schwerer Schnee, daß Bäume unter der Last umstürzten und die Paßstraße unpassierbar war. Wir waren daher auf den Cormet de Roseland ausgewichen, wo wir dann vollbepackt durch Eis und Schnee rutschten. Aber ich gab mein Ehrenwort, daß diesmal auschließlich die Sonne scheinen würde, und irgendwann glaubte sie mir – der Klügere gibt halt nach…
Früher auf dem Weg in die Camargue, die Provence oder an die Cote d’Azur waren wir an dieser Region immer nur vorbeigebraust. Erst die Suche auf der Michelinkarte Nr. 244 nach einer Alternative zum unpassierbaren kleinen St. Bernhard hat mich auf die Savoyen aufmerksam gemacht. Schon beim ersten Überfliegen der Karte fielen mir die vielen kleinen, grün berandeten Berg- und Paßstraßen auf, deren Namen ich zum größten Teil noch nicht einmal gehört hatte. Mein Interesse an einer Urlaubsreise in diese Region war damit geweckt. Zur festen Absicht wurde das Interesse jedoch erst, als ich den Reiseführer „Alpen 2” von Elke und Dieter Loßkarn in die Hände bekam, der u. a. auch eine Rundfahrt in diesen Teil der Alpen enthält. Dort wird von kleinen, idyllischen Strassen in alpiner Landschaft, abgelegen von den typischen Touristenstrecken berichtet. Dies entsprach genau meinen Vorstellungen von einem idealen Motorrad-Reiseziel.
Nach Anreise über Mühlhausen, Bourg-en-Bresse und Annecy bildet der Col des Aravis den Einstieg in unsere Savoyen-Rundfahrt. Mit seinen 1498 Höhenmetern gehört er zwar eher zu den „Kleinen”, aber eine Modelleisenbahnlandschaft macht das Kurvenschwingen zum Vergnügen und von der Paßhöhe hat man – gute Sicht vorausgesetzt – einen Prachtblick auf den höchsten Berg Europas, den 4807 Meter hohen Mont Blanc.
Wir fahren weiter Richtung Ugine über den Col de l’Arpettaz, dessen südwestliche Seite sich landschaftlich vollkommen anders präsentiert: Kilometerweit führt das kleine Sträßchen durch dichten Wald. Erwartet hätte ich dieses Landschaftsbild hier nicht, erscheint es doch recht wenig „alpin”. Aber es macht trotzdem viel Spaß, ganz allein durch das Gehölz zu brummen.
Natürlich wollen wir auch prüfen, ob am Cormet de Roseland wieder Schnee liegt und schlagen daher über Beaufort – von dort stammt der gleichnamige Käse – und den Col du Pre den Weg zum Roseland-Stausee ein. Natürlich sind Schneefälle im Juni eher die Ausnahme und so besteht auch kaum die Gefahr, daß Schneematsch die Straßen überzieht. Und so genießen wir nach einem Picknick am Ufer des Roseland-Stausees die herrliche Landschaft und die beschwingte Kurvenfahrt bei der Überquerung des Cormet.
Ganz ohne bekannte Paßstraßen muß es dann allerdings auch nicht sein, und so biegen wir in Bourg-St. Maurice Richtung Col de l’Iseran ab. Der Iseran ist mit seinen 2770 Metern nach dem Col de la Bonnette mit 2802 Metern zwar „nur” der zweithöchste befahrbare Paß der Alpen, aber immer wieder ein Erlebnis. Laut Reiseführer soll der Paß nur von Juli bis September geöffnet sein, und auch während dieser Monate muß bei ungünstigen Bedingungen mit kürzeren Sperrungen gerechnet werden. Wir haben jedoch Glück und können ihn problemlos überqueren.
Beim Fahren bemerken wir immer wieder die von Blumen übersäten Wiesen rechts und links der Straße. Häufig halten wir an, um uns für eine kurze Pause ins Gras zu setzen und die reichhaltige Alpenflora zu betrachten. Gelesen habe ich es in Reiseführern und Berichten schon häufiger, und es ist tatsächlich wahr, daß die Alpenflora Mitte bis Ende Juni ganz besonders schön ist. Mir ist jedenfalls bei bisherigen Fahrten in die Alpen – meist Juli bis September – die Farbenpracht noch nie so aufgefallen.
Vor Lanslebourg biegen wir links ab zum Col du Mont Cenis und der italienischen Grenze. In Susa möchte ich auf die 34 Kilometer lange Assietta-Kammstraße, einem alten Militärsträßchen, das einen lehmig-schottrigen Naturbelag aufweist und in der Michelinkarte als „Route dangereuse” (gefährliche Straße) gekennzeichnet ist. Beim Anblick der Piste verweigert Alexandra trotz – oder gerade wegen – ihrer BMW R 1100 GS spontan aber resolut die Weiterfahrt. Auch eine mit zwei Personen besetzte und mit Koffern, Tankrucksack und Gepäckrolle vollgepackte Yamaha XJ 900 F, die uns entgegenkommt, kann Alexandra nicht umstimmen. Insoweit bestätigt diese Ausnahme wieder die Regel, daß der Klügere nachgibt… Aber man soll sich ja immer noch etwas offenhalten, um beim nächsten Besuch in dieser Gegend auch noch etwas Neues entdecken zu können.
Wir fahren daher weiter über Briancon und den weniger interessanten Col du Lautaret zum viel interessanteren Pässeklassiker Col du Galibier. Obwohl ich den 2646 Meter hohen Galibier schon öfter gefahren bin, bin ich vom Landschaftsbild überwältigt. Noch nie habe ich den Galibier als landschaftlich so beeindruckend empfunden. Bei früheren Fahrten war das Wetter aber auch nie so richtig gut gewesen. Nach diesem Alpenklassiker ist mal wieder etwas unbekannteres angesagt, und so fahren wir zwischen St. Jean de Maurienne und la Chambre über den 1532 Meter hohen Col de Chaussy. Der Paß selbst ist gar nicht die eigentliche Attraktion dieser Strecke, sondern die Kehrenanlage zwischen Montvernier und Pontamafrey. In eine fast senkrechte Wand sind übereinander insgesamt 24 enge Kehren angelegt, die einen Höhenunterschied von etwa 300 Metern überbrücken. Ständig den Abgrund im Augenwinkel ergibt sich eine beeindruckende Kurverei. Zu einem sehr hohen Adrenalinspiegel trägt dabei jedoch am meisten der in jeder Kehre großzügig auf dem Asphalt verstreute Schotter bei.
Auch auf anderen kleineren Paßstraßen – und hier insbesondere der Col de la Madeleine – läßt der auf dem Asphalt liegende Schotter die Kurvenfahrerei zum Eiertanz werden. Der Schotter ist zum Teil Rest des Winterdienstes, wo er auf den verschneiten Bergstraßen zu mehr Grip verhelfen soll, und zum Teil auch Begleiterscheinung von Instandsetzungsmaßnahmen im Straßenbau.
Gebaut wurde im übrigen auf nahezu allen von uns befahrenenen Straßen, da Instandsetzungsarbeiten vornehmlich in den Monaten April bis Juni erledigt werden. Bis April sind an den Bergstraßen aufgrund klimatischer Bedingungen oftmals noch keine Arbeiten möglich, und ab Juli hat Frankreich Urlaub und die Straßen müssen für den Touristenansturm hergerichtet sein.
Über den Col de la Croix de Fer und den malerisch leuchtenden Col du Glandon kommen wir zum 1989 Meter hohen Col de Sarenne nahe des französischen Wintersportortes l’Alpe d‘ Huez. Wieder so eine einsame Paßstraße in prachtvoller Landschaft. Als „Schmankerl” weist der Sarenne noch eine kleine Furt auf, die zu queren ist. Ein offensichtlich hauptsächlich von Schmelzwasser gespeister Bach ergießt sich hier über die Straße, wo ihm ein etwa 10-15 cm tiefes Bett im Strassenbelag eingerichtet wurde. Insgesamt siebenmal fahre ich hindurch, bis Alexandra endlich im richtigen Moment auf den Auslöser drückt und das entsprechende Foto im Kasten hat. Hoffentlich hat da niemand zugeschaut…
Den Savoyen kurzfristig den Rücken kehrend steuern wir zu den Schluchten ins nördliche Vercours. Zunächst fahren wir durch die Grand Goulets, wo man ganz unten am Fuße der Schlucht direkt an einem Flußlauf fährt. Immer wieder führt die Straße durch enge Tunnel und auf beiden Seiten steigen die Felswände steil empor. Das Gegenteil hierzu ist die Combe Laval. Zwar ebenfalls eine Schlucht, fährt man hier jedoch ganz oben auf der teilweise abenteuerlich in den Fels gehauenen Straße. Die Strecke scheint der Landschaft regelrecht abgerungen zu sein.
Der Rückweg in die Savoyen zum Vanoise Nationalpark führt uns über Albertville. In der Stadt erinnern die Sonnenschirme der Straßencafés mit entsprechendem Aufdruck noch an die Austragung der olympischen Winterspiele im Februar 1992. So kommen wir auch in der Gegend um Moutiers in den Bereich der französischen Wintersportorte wie Courchevel, La Plagne etc. Im Juni gleichen diese Orte Geisterstädten, haben sie doch Schlafstätten und Infrastruktur für mehrere tausend Menschen und sind zu dieser Jahreszeit nur von einer Handvoll Einwohner, die vorrangig mit Bau- oder Renovierungstätigkeiten beschäftigt sind, bewohnt.
In Courchevel passieren wir die olympische Skisprungschanze und in La Plagne die Bobrennbahn. Im Sommer wirken diese Einrichtungen wie auch die unzähligen Skilifte unwirklich und insbesondere die Sprungschanze erscheint viel kleiner als im Fernsehen – wahrscheinlich aber auch nur so lange, wie man nicht selber oben steht…
Der Weg durch die Wintersportorte lohnt aber dennoch, ist er doch der einzige – zumindest legal – befahrbare Weg in den Vanoise Nationalpark. Hier wird die Natur im Gegensatz zur Wintersportregion geschützt und beim Anblick von blumigen Bergwiesen, Wasserfällen und unverbauten Berghängen sind auch wir wieder zufrieden.
Über Aime erreichen wir wieder Bourg-St. Maurice, womit sich unsere Rundfahrt durch die Savoyen schließt, und beginnt nun eigentlich die Rückfahrt nach Hause. Aber Heimfahrt ist ja nicht immer gleichbedeutend mit Autobahn und so gönnen wir uns noch einen Tag und überqueren – diesmal bei Bilderbuchwetter – den kleinen und großen St. Bernhard-Paß.
Den Abschluß der Fahrt bilden die Erdpyramiden von Euseigne bei Sion in der Schweiz. An Stellen, wo hartes Felsgestein liegt, sorgt es dafür, daß das weichere Erdreich darunter nicht von Wind und Wetter erosiert wird. Dadurch bilden sich Türme bzw. Pyramiden aus, auf denen ganz oben eben dieses härtere Felsgestein liegt – ein uriger Anblick.
Und nun heißt es für uns tatsächlich die Hühner zu satteln und Nordkurs gen Heimat einzuschlagen. Aber es ist sicher nicht für alle Tage, denn wir kommen wieder – keine Frage.
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