aus bma 12/03

von Markus Witt & Ingrid

Einsame Strasse in Finnland Motorradfahrer sind Träumer! Sie träumen logischerweise von der Isle of Man, von der Route 66, Daytona und natürlich vom Nordkap. Wahre Träume gehen in Erfüllung! Wetten dass, … Biker träumen von Harleys, High-Tech-Sport aus Japan, verführerischen knapp bekleideten roten Ducatis und sie erfüllen sich diese Träume, indem sie die Maschinen kaufen. Aber, wie sieht es mit den anderen erstgenannten sehnsüchtigen Träumen aus?
Auch Nicht-Biker haben Träume! Wetten dass, … Ingrid träumt schon lange davon zum Nordkap zu fahren, wohlgemerkt als Nicht-Bikerin mit dem Motorrad. Aber am besten übernimmt Ingrid jetzt selber das Wort:
„Tja, da sitze ich nun mit meinem Talent. Sehr reiseerfahren zwar, ob mit Auto, Bus, Bahn oder Flugzeug. Aber mit dem Motorrad unterwegs für 23 Tage, das hatte ich noch nicht ausprobiert. Doch genau dazu bin ich eingeladen worden, obwohl es eigentlich von einer unmöglichen Wette ausging. In meinem Leichtsinn meinte ich zu Markus, ich könnte auch ohne jegliche Motorraderfahrung mit ihm bis zum Nordkap fahren. Wetten dass? Ungläubig hat er mich zunächst angeschaut. Und dann zu mir gesagt: „Ok! Schaun wir mal!“
Das Abenteuer beginnt: „Ja, ja, du bekommst auch den großen Koffer! 40 Liter Fassungsvermögen!”

 

„Was, Badelatschen sollen auch mit – das ist Luxus!” „Na gut, ein bisschen Luxus muss sein!” Ein paar Tagestouren in Norddeutschland, dreimal Zelt auf- und abbauen üben, zwei Wochenendtouren und los geht’s in Richtung Ende der Welt.
Das Wetter spielt mit. Der Hintern schläft nicht ein. Muskelkater gibt es nicht und ich gewöhne mich daran, immer an Markus’ Helm vorbei zu schauen. Die erste Pause genehmigen wir uns auf der Schnellfähre von Frederikshavn nach Göteborg. In den zwei Stunden der Überfahrt herrschen italienische Sommerverhältnisse. Nun ja, einen Tag unterwegs, 500 Kilometer von daheim, und nur noch gut 3000 Kilometer zum Nordkap, das können wir schaffen. Je weiter es gen Norden geht, desto besser scheint das Wetter zu werden. Örebro zeigt sich uns tatsächlich von seiner schönsten Seite. Das lustige Treiben in der Fußgängermeile verfolgen wir mit Genuss: Cappucino und köstliche Krabbenbrote.
Oslo Traditionelle Volkstänze untermauern eine sprunghaft angestiegene schwedische Fröhlichkeit. Ein Glück, dass das Wetter mitspielt. Sonnenschein und kein Regen. Im Norden scheint tatsächlich das Wetter besser zu werden!
Auch Stockholm lockt mit Sonnenschein. Durch Stockholms Metropole zu zirkeln, um einen der wenigen Campingplätze in den Außenbezirken zu erreichen, ist nicht ganz ohne. Prompt geraten wir in den Feierabendverkehr und dieser unterscheidet sich so gut wie gar nicht von anderen europäischen Großstädten. Auch wird wesentlich aggressiver gefahren. Einen Tag wollen wir uns aufhalten, um Stockholms Sehenswürdigkeiten per S-Bahn und per pedes zu erkunden.
Am nächsten Morgen: Es regnet in Strömen und unsere Motivation, Stockholms Sehenswürdigkeiten unter die Lupe zu nehmen, schwindet dahin. Dankbar kaufen wir in einem Souvenir-Shop am Hauptbahnhof für umgerechnet fünf Euro einen Regenschirm. Freundlich lächelnd weist uns die Verkäuferin darauf hin, dass wir den Regenschirm innerhalb von zwei Monaten zurückgeben könnten und unser Geld erstattet bekämen.
Wir suchen in Europas regenreichster Hauptstadt das sogenannte deutsche Viertel auf. Unsere Gedanken schwirren aber alle ums Nordkap trotz der wunderschönen Altstadt. Ich habe erste Zweifel, ob es bei dem Regen überhaupt erreichbar sein wird. Daraufhin zeigt Markus sich ganz mutig und schließt mit mir eine Zusatzwette ab: In einem winzigen Tabakladen ergattert er für sündhaft teure 18 Euro eine Winston-Churchill. „Die Havanna rauchen wir gemeinsam am Nordkap, wetten dass?”
Kaum verlassen wir Stockholms dichten Verkehr in Richtung Norden auf der E4, bessert sich das Wetter. Über 550 Kilometer fahren wir heute. Nachmittags klart es endlich auf und gegen Abend genießen wir die warmen Sonnenstrahlen unter blauem Himmel. Auf mein Drängen hin mieten wir uns bei Piteå abends eine Hütte und hängen die nassen Klamotten zum Trocknen auf. Was stellen wir am nächsten Morgen als erstes fest: Nieselregen! Bloß weiter in Richtung Norden! Immer geradeaus auf der E4.
Übrigens sei angemerkt: Die nächsten Tage und Wochen verlaufen in einem ähnlichen Rhythmus: Morgens kurz frühstücken, aufsatteln, tagsüber 300 bis 450 Kilometer fahren, zwischendurch Mittagessen und abends wieder alles abpacken.
Unsere Hauptmahlzeiten beziehen wir an den Tankstellen. „Dagens rätt” und viel Kaffee sei empfohlen, vor allem, weil es preiswert ist. Wer es noch nicht weiß: die erste Tasse Kaffee ist sündhaft teuer, dafür darf – in der Regel – in ganz Skandinavien soviel nachgeschenkt werden, wie man möchte. Aber was ganz entscheidend für uns beide ist: Es kommt keine Missstimmung wegen des Wetters oder der Unterkunft zwischen dem Frischling und dem Fahrer auf. Jeden Tag werden wir geübter und sind schließlich ein gut eingespieltes Team. Ich packe die Klamotten und koche Kaffee, Markus sattelt auf und fährt.
Am Polarkreis Fahren, Motorradfahren pur. Cruisen nennt Markus das. Immer geradeaus auf den gut ausgebauten Highways entlang Högas Küsten bis zur finnischen Grenze bei Haparanda-Tornio. Ich erinnere mich plötzlich an Amerika. Vor allem Kanada bietet ähnliche Reize wie Skandinavien. Stundenlang sitze ich hinten drauf. Aber es macht mir erstaunlicherweise immer noch nichts aus. Mir fällt besonders auf, dass die Baumwipfel der riesigen Birken- und Kiefernwälder mit der Zeit immer niedriger werden. Von Tornio geht es dann in Richtung Rovaniemi am Kemijoki-Fluss entlang. Der Verkehr nimmt merklich ab. Andere Biker oder Fahrzeuge begegnen uns immer seltener. Plötzlich entdecken wir mitten in der Walachei am linken Fahrbahnrand einen rotbekleideten Mann mit langem weißen Rauschebart auf einem Stuhl sitzend. Freundlich grüßt uns Santa Claus mit seiner Rute. Und das im Juli! Der Polarkreis, die Heimat unseres Weihnachtsmannes, kann nicht mehr weit sein.
In Rovaniemi versuchen wir eine Hütte auf dem Campingplatz direkt am Kemijoki-Fluss zu ergattern. Nein, Hütten haben wir nicht, erzählt uns ein junges Mädchen in gutem deutsch. Aber zwei Campingwagen mit Vollausstattung.
Rovaniemi entpuppt sich als junge Stadt mit den typischen Bauten der fünfziger Jahre bis hin zu den sozialistisch geprägten Plattenbauten. Am nächsten Tag statten wir dem Weihnachtsmann einen Besuch ab. Ach herrje, denken wir bei dem Anblick von Krims und Krams, Kitsch und nochmals Kitsch und den ganzen Touristen aus aller Welt. Zwei Stunden Aufenthalt genügen uns, um dann weiter in Richtung Otsamo am Inari-See zu fahren.
Stichwort Mücken: Bis dato blieben wir davon verschont, aber hinter dem Polarkreis lauern sie uns zu Unmengen auf. Selbst das Betanken der GS wird zur Qual. Unsere Helme bleiben von nun an grundsätzlich zu. Visier geschlossen, um den Kampf gegen die Mosquitos aufzunehmen. Einmal bezahle ich mit Karte und wundere mich, dass mein Freund ständig mit der GS auf dem Tankstellengelände herumkurvt. Selbst im zweiten Gang fliegen die Blutsauger hinter ihm her. Übrigens, Elche entdecken wir nur zweimal, dafür zählen Rentiere zu unseren ständigen Begleitern. Vor allem nachdem wir den Polarkreis überschreiten, müssen wir besonders auf sie achten. Außerdem begegnen uns ständig irgendwelche Schafe, die vor allem den rauhen Asphalt – scheinbar besonders in Kurven – lieben.
Nach dem Inari-See steuern wir entlang der russischen Grenze Kirkenes in Nordnorwegen an. Unterwegs genießen wir am Straßenrand frisch geräucherten Lachs. Wir passieren schließlich Europas nördlichsten „grünen” Grenzübergang und erreichen gegen Abend das kleine niedliche Fischerstädtchen Kirkenes. Eigentlich würde Kirkenes keine bedeutende Rolle in Nordnorwegen spielen, aber militärisch hat es oberste Priorität. Markus kommt auf die Idee, mit mir schnell einmal rüberzufahren. Murmansk liegt nur rund 180 Kilometer entfernt. Dennoch bleibt der Grenzübergang zu Russland für uns verwehrt. Nur mit dem Bus könnten wir an bestimmten Tagen reisen. Wir fahren zur Grenze Jakobselv, direkt an der russischen Grenze, um dort einen Blick auf die Barentsee zu riskieren. Die letzten 20 Kilometer sind übrigens reine Schotterpiste und jetzt merke ich erstmals mein verlängertes Rückgrat. Den Strand bewundern wir durch Maschendrahtzäune. Dort befindet sich auch eine kleine Stabholzkirche, die als Mahnmal gegen die kriegerischen Auseinandersetzungen um 1900 errichtet wurde. Wir sind beide ziemlich erleichtert, als wir nach Kirkenes zurückkehren.
Unser Zeitplan drängt und unser nächstes Ziel lautet sehnsüchtig: Nordkap!
Wir starten von Kirkenes aus und kommen auf der zum Teil serpentinenartigen E6 auch gut voran. Die Straße ist gut asphaltiert und auch der Wettergott ist uns wohlgesonnen. Ab Gandvik genießen wir immer kurze Blicke auf den Varangerfjord. Ab Rustefjselbma wird aus der E6 mehr oder weniger eine Schotterpiste. Die Temperaturen fallen schlagartig und mein Körper scheint einem kühlen Zug ausgesetzt zu sein. Wir müssen anhalten und ziehen unsere letzte Schicht, in Form von Jogginganzügen, unter unsere Motorradklamotten. Weiter geht’s! Mehr als 50 km/h sind aber nicht drin, zumal die Piste mit Schlaglöchern nur so gespickt ist. Endlich erreichen wir Iford. Längst hat das Wetter umgeschlagen. Nieselartige Schauer hüllen die ohnehin karge Landschaft in ein gespenstig abweisendes menschenfeindliches Naturgebiet. Auf dem Campingplatz bekommen wir eine Hütte und können sogar im Campingheim Rentierragout mit Preiselbeeren genießen.
WegweiserAbends überlegen wir uns, ob wir nicht von Kjöllefjord aus mit Hurtigrouten nach Honningsvag übersetzen könnten, um schneller das Nordkap zu erreichen.
Früh starten wir von Iford aus. Nasskaltes Wetter empfängt uns auf den ersten Metern, als die GS sich in Bewegung setzt. Sofort beschlägt mein Visier. Obwohl durch die Lüftungschlitze des Helms kalte Luft reinzieht, sehe ich wenig. Hoffentlich sieht mein Fahrer mehr. Serpentinen, Schotter, schroff abfallende tiefe Schluchten und tundraähnliche Natur lassen wir hinter uns. Keine kargen Birken und Kiefern, nur trostloses dunkles Geröll. 450 bis 650 meterhohe Fjells gilt es zu überwinden. Oben angekommen, sehen wir immer wieder Stellen, in denen sich Wasser gesammelt hat und sich Eisschollen gebildet haben. Und es ist Hochsommer – laut Kalender!
Urplötzlich schießt mir durch den Kopf, was wäre, wenn wir liegenbleiben würden. Das Handy haben wir natürlich dabei, bloß würde hier auch jemals jemand kommen? Durchgefroren erreichen wir Kjöllefjord. Dort erleben wir eine unangenehme Überraschung. Hurtigrouten schickt sein Postschiff erst um drei Uhr morgens. Die Zeiger meiner Uhr stehen auf 14 Uhr. Das einzige Hotel am Fjord sieht genauso trostlos aus wie das Hochplateau. Die beste Entschädigung des Tages erhalten wir ausgerechnet in einer Imbissbude. Riesige erstklassige gebratene Lachssteaks und Salzkartoffeln statt Burger und Pommes. Der Fjord macht seinem Namen alle Ehre: Laksefjorden.
Markus drängt auf Rückfahrt nach Ifjord, und das aus gutem Grunde: Nebel zieht auf und wir müssen über die Fjells zurück. Immer wieder bricht die dichte Wolkendecke beim Abwärtsfahren eines Fjells auf und lässt einen flüchtigen Blick über den Laksefjorden zu.
In Iford angekommen, disponieren wir um: Weiterfahren bis Lakselv und dort eine Hütte nehmen. Abends erreichen wir todmüde den Ort und steuern den erstbesten Campingplatz an. Aber alle Hütten sind belegt. Zum Glück existiert in Lakselv ein Hotel, welches uns auch für zwei Nächte aufnimmt.
Heute schreiben wir den 7.7. und das langersehnte Ziel Nordkap wollen wir erreichen. Frisch ausgeruht, ohne Gepäck starten wir. Irgendwie scheint der Begriff Nordkap eine Art Magie auf unzählige Menschen auszuüben. Die Straßen sind voll von Bussen, Wohnmobilen, Motorrädern, aber auch von Rollern und Fahrradfahrern. Entlang am Wasser, durch zahlreiche Tunnel führt die Straße bis nach Honningsvag. Bevor wir aber auf die Mageroja-Insel gelassen werden, müssen wir noch eine sündhaft teure Maut bezahlen. Besonders fällt uns die niedliche Ampel auf, auf dem ein grüner Biker freie Fahrt signalisiert. Von Honningsvag führt schließlich eine Bergpiste zum Nordkap. Endlich, am 11. Reisetag erreichen wir das Plateau. Nachdem wir eine zweite Maut für 48 Stunden Aufenthalt bezahlt haben, finden wir uns zwischen Reisebussen, Wohnmobilen, Autos und Moppeds auf dem riesigen Gelände ein.
Dort wandern wir das Plateau ab, genießen die gute Aussicht, wo Barentsee und das europäische Nordmeer sich treffen. Und natürlich lösen wir unsere Wette mit zwei Tassen Kaffee und einer glühenden Havanna ein!
Und weiter? Heil, gesund, diesmal nicht durchgefroren, verschießen wir zwei ganze Filme, essen Rentier auf Toast und schreiben gut 30 Postkarten mit dem berühmten Nordkapstempel. Jetzt heißt es wieder: heimfahren. Tschüß Nordkap!
Von Lakselv führt unser Weg über Alta zur Universitätsstadt Tromsö. Dort gibt es technische Probleme mit dem Getriebe, die Markus in einer Tankstellenwerkstatt lösen kann. Dennoch haben wir zwei Tage an Zeit verloren.
Von Tromsö aus düsen wir nach Narvik. Die Zeit drängt. Wir entschließen uns durch Schweden nach Trondheim zu fahren. Das nächste Ziel ist Kiruna, jene Trabantenstadt, in deren Zentrum ein Campingplatz liegt. Jeder Schüler kennt namentlich diese Stadt aufgrund der Erzförderung aus dem Geografieunterricht.
Unsere Route führt über Arvidsjaur nach Östersund. In Moskosel, welches vor Arvidsjaur liegt, beherrschen schwedische Skinheads mit ihren Autos die Straße. Zu allem Überfluss werden uns dort auch zwei Motorradkleidungsstücke von der GS gestohlen. Bloß weiter nach Östersund, denken wir. Doch von nun an ist Regen nur noch unser ständiger Begleiter. Meine harmlose Frage, wie lange es in Östersund schon regnet, beantwortet ein Hotelrezeptionist mit „über acht Wochen“! Von Östersund fahren wir im strömenden Regen nach Trondheim in Norwegen zurück. Tagelang regnet es weiter.
Später erfahren wir, dass es die schlimmsten Niederschläge seit zig Jahren in Schweden waren. Von Trondheim geht es dann über Lillehammer nach Oslo. Von dort wieder nach Frederikshavn und dann nach Kiel.
Wetten dass nicht nur eine Wette, sondern ein Traum erfüllt wurde? Das Wichtigste aber, heil und gesund, ohne Sturz oder Unfall wieder daheim zu sein.