aus bma 11/13
von Matthias Binder

Geschichten aus dem Hubraumkeller – die Charakterfrage
 
Woher kommt der Charakter eines Motors oder des ganzen Motorrades? Und was ist der Charakter? Kennen wir den Charakter eigentlich nicht nur bei Menschen? Woher hat ein Motor dann seinen Charakter herbekommen? Genug der Fragen! Der Charakter eines kraftbetriebenen Zweirades ist kein parapsychologisches Mysterium, sondern nackte Technik und das im nachfolgenden Fall sogar im Wortsinne.
Wir wollen daher heute einmal zwei Charaktere näher beleuchten: Den Bayerischen Boxer und den Japanischen Reihenvierzylinder. Durchzug gegen Schnelligkeit. 2 Worte und schon ist der Charakter beschrieben. Oder ist es Sound gegen Drehzahl? Vielleicht auch Seele gegen das Seelenlose?
Um das zu bestimmen, müssen wir die Funktionsweise von Boxer und Reihenvierer verstehen, denn es ist bei weitem nicht so wie es scheint oder technikaffine Nerds es uns weismachen wollen. Hat sich denn noch nie jemand jemals ernsthaft gefragt, warum die Bayern und Japaner mit so niedrigen Arbeitslosenquoten beseelt sind? Nein? Ganz einfach: Weil in jedem Kurbelgehäuse ein Arbeitsplatz integriert ist. Jawohl! Bayerischer Boxer und Nipponorgel werden biologisch angetrieben! Ein charakterbiologisches Antriebssystem.
Maßgeschneidert hockt der Arbeiter in seinem kuschelig eingerichteten Ölsumpf mit freiem Zugang zu den Laufbuchsen. Voller Hingabe zu seiner Marke – oder mittels üppiger Bezahlung, die den Kaufpreis in die Höhe treibt – verrichtet der Arbeiter seinen Dienst, bis er sich eines Tages still und heimlich in das Rentnerdasein verabschiedet, oder er einen Anruf seines Produktmanagers bekommt, der auf Druck der Marketingstrategen das Ende des Produktlebenszyklus verkündet.
Manche glauben ja wirklich an die Mär der Kurbelwelle, doch wir wissen: Den Job macht der kleine Mann im Motor! Wie das funktioniert zeigen wir zuerst am Beispiel des bayuwarischen Weißwurstvergasers.
Der Sepp (so nennt sich der Boxerklopper) sitzt entspannt in seiner Ölwanne. Die guckt vorne etwas weiter heraus, damit die angewinkelten Knie genügend Platz haben. Die Schultern sind etwa in Höhe der Mittelachse der Zylinderbohrungen. Der Sepp hockt also in Fahrt­richtung im Boxer. Er ist ein Bayer wie aus dem Bilderbuch: Kräftig gebaut (leicht adipös), kurze Wildlederkombi, urgemütlich. In der Ruhe liegt die Kraft und da er seine Ruhe liebt, muss er zum Boxen jedesmal sanft überredet werden. Dazu hat Sepp in der Lederbuchse die zwei blitzblanken Kontaktplatten eines Reizstromgerätes. Glaubt ihr nicht? BOSCH baut nicht nur Motorelektronik, sondern auch Reizstromequipment. Googelt mal danach. Wenn das nicht Beweis genug ist! Leider verbraucht das Reizstromgerät permanent Strom, sodass sich ab und an einmal die Batterie auf magische Weise entleert. Nein Leute: Kein ABS-, Uhr-, Alarmanlagen- oder Wegfahrsperrenproblem: Reizstrom!
Ein Druck auf den Anlasserknopf jagt dem Sepp die volle Zündspannung in Richtung Rektum und der findet das natürlich gar nicht so lustig wie ich jetzt gerade bei der Vorstellung, was sich durch den Saft so alles aufrichtet. Vor Wut, vielleicht auch aus Frustration weil sich doch nichts aufgerichtet hat, boxt der Sepp mit der geballten, haarigen linken Faust gegen den linken ergonomisch gefrästen Kolbenboden und schnaubt erst einmal tief durch und wie in Slowmotion guckt er dem behände beschleunigten Kolben hinterher. Fast schon romantisch dieses Bild wie der Kolben so in den Sonnenuntergang hineinrauscht. Wie das Alpenglühen nach einer ambitioniert gerittenen Pässetour in den Dolomiten beim Tourabschlussbier, begleitet von Oden auf die Schräglage – einfach nur schön…
Und er fängt immer mit Links an, da der Sepp Rechtshänder ist und in der rechten Hand ist nunmal der Masskrug. Das bringt uns zur Kraftstoffversorgung. Der Tank ist randvoll mit Weißbier. Der Monopoint-Injektor der Einspritzung befördert alle 10.000 Kardanumdrehungen genau 1 Liter trüben Gerstensaft in Sepps Masskrug, den der Sepp dann sofort mit -5 atü inhaliert und danach kräftig aufstößt, was man als Knacken im Kardan wahrnehmen kann.
Während nun der linke Kolben langsam aber sicher die Kolbenrückholfeder bis zum Anschlag spannt, stellt der Sepp den Masskrug ab und boxt jetzt auch gegen den rechten Kolbenboden und dann abwechselnd links und rechts. Durch seine kräftige Statur fällt ihm das Boxen etwas schwer und so boxt er recht gemütlich gegen die nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen geformten Kolbenböden. Was von Außen nach Ventildecklen auszusehen vermag, ist in Wahrheit ein filigraner Schneckenantrieb, der mit der Hauptwelle des Kardan verbunden ist. Die Getriebebox ist in Wirklichkeit die Schlafkoje vom Sepp und damit wird es jetzt für manchen eine bittere Wahrheit, aber der Kupplungshebel ist nur ein Signal an Sepp die Zugkraft zu unterbrechen, um später den Aufpreis für eine Racingkupplung oder Schaltautomatik zu rechtfertigen, ohne ein wirklich anderes Produkt bauen zu müssen.
Mit dem Gasgriff werden dem Sepp 3 Zustände signalisiert: Zustand 1 – Sepp darf nach eigenem Ermessen draufhauen. Da Sepp es lieber gemütlich mag ist das in 99 % der Fälle ein unrunder und gleichsam charaktervoller Leerlauf. Man spürt quasi das Lebendige in der ungleichmäßigen Schockwelle, die sich über die metallene Maschinerie verbreitet wenn der Sepp mit ordentlichem Zunder zünftig zuhaut. Gänsehaut pur weiß man es, dass es der Sepp ist und nicht irgendein lebloses von spanabhebenden Werkzeugen bearbeitetes Stück Altmetall. In 1 % der Fälle boxt der Sepp in Zustand 1 wild vor sich hin. In dem Fall sprechen wir von einer falschen Leerlaufdrehzahl und gehen in die Werkstatt. Im Regelfall stimmt einfach das Weißbier-Luft-Verhältnis nicht.
Zustand 2 – Halbkrug. Sepp boxt was er kann. Das ist nicht viel aber kraftvoll. Zustand 3 sollte eigentlich volle Pulle sein, aber trotz langwieriger Therapien war Sepp nicht über Halbkrug zu bekommen. Daher hat man sich gedacht, wenn außer 1 und 2 nichts funktioniert, lassen wir’s einfach dabei und schon hat der Motor seinen Charakter.

Charakter als Ausdruck des Unvollkommenen; der vollkommene Charakter.

Nun kommt die Nipponorgel. Das Funktionsprinzip ist dem des Boxers nicht unähnlich nur kommt hier ein kleiner drahtiger und splitternackter Standardjapaner zum Einsatz. Nackte Technik eben! Dank der geringen nominellen Körpergröße müssen die nicht wie das Modell Sepp extra für die Aufgabe gezüchtet werden, sondern werden von Casting-Scouts in den Straßen Tokios angeworben. Ehre für Familie und Vaterland sowie 2 Geishas und unser Hayame (so nennen sich die Nipponreierer) ist für seinen Einsatz bereit.
Er hockt sich stets gegen die Fahrt­richtung in seine Ölwanne. Bei aller Hingabe zum Kolbendreschen, kann der Hayame einfach nicht hinsehen, wenn der knieschleifende Gasdreher auf der letzen Rille über den Asphalt fräst. Dank seiner kleinen Abmessungen brauchen die Knie keinen besonderen Platz und zum Schlafen kann er sich längs in den Ölsumpf legen. Daher haben die Nipponorgeln auch ein echtes Gertriebe. Hakelig aber immerhin vorhanden.

Unser Hayame erwacht, sobald wir uns auf die Sitzbank schwingen. Er achtet auf jedes kleineste Geräusch mit äußerster Konzentration. Sowie wir den Anlasser auch nur berühren, hat er schon – HAIYAAA – 1x alle 4 Kolbenböden innerhalb einer Millisekunde vedroschen. Solange der Gasgriff nicht bewegt wird, hämmert der Hayame mit der Präzision eines Schweizer Metronoms gleichmäßig auf die Kolben ein. Rückholfedern braucht die Nipponorgel nicht, denn unser Hayame ist so schnell, dass er genügend Zeit hat die Kolben auch wieder nach unten zu ziehen, während er in der Zwischenzeit an seinen Memoiren schreibt, einen Kirschblütentee zubereitet oder mit einer der zwei Geishas ein Verbeugungsritual vollzieht (beide Gei­shas gleichzeitig sind durch ein altes japanisches Gesetz verboten, woran sich aber angeblich nicht alle Importmodelle halten sollen).
Er kann es hören, ob wir den Gasgriff drehen und wehe er hört etwas. Dann drischt er auf die Kolben ein, wie ein vierarmiger Sushimeister einen Kugelfisch filetiert. Durch die wahnwitzig hohe Anzahl an Kolbenanschlägen, funktioniert die Nipponorgel wie ein Kompressor. Und wenn man den Tankdeckel öffnet und genau hinhört, bemerken wir das leise Zischen. Das ist der Restdruck der aus dem als Druckkessel dienendem Tank entweicht. Den Kraftstoff füllen wir nur ein, um ein gutes Gefühl zu haben und die Nipponorgel nutzt das Benzin lediglich zum Erzeugen von Fehlzündungen. Nur zu diesem Zweck gibt es schließlich die als Lambdasonde getarnte Einspritzdüse im Auspuff.

Der Hayame macht nie freiwillig Urlaub, Ferien, Krank oder würde jemals – aus welchem Grund auch immer – seinen Dienst quittieren; es sein denn der japanische Kaiser oder Soichiro Honda persönlich befehlen ihm bei seiner Ehre die Durchführung eines Seppuku, wobei das Verbot dieser Zeremonie älter ist, als der erste 2-rädrige Reiskocher was uns wieder zu dem Punkt führt, dass der Hayame niemals seinen Dienst einstellt. Sein einziger natürlicher Feind ist der Hobbyschrauber gegen den bekanntlich kein Kraut gewachsen ist.
Er ist der Inbegriff von Schnelligkeit und Ausdauer und leistet erheblich mehr, als es für die winzigen Kölbchen möglich erscheint. Wenn du mit deiner Nipponorgel morgens auf dem Dach des Himalaya aufwachst, weißt du ganz genau, dass du am nächsten Morgen schon auf dem K2 sein kannst und während der kleine Japaner im Kurbelgehäuse die Kolben auf Schallgeschwindigkeit bringt, stellen sich die Nackenhaare auf.
Charakter als Ausdruck der Vollkommenheit. Aber wollen wir das? Wie auch immer, jetzt wisst ihr wie das wirklich mit dem Charakter eines Motors funktioniert. Und mir fällt jetzt mindestens einer ein, der sich beim Lesen dieser Zeilen fragt, wer denn dann in seiner desmodromischen Italienerin hockt und drischt, aber leider kann ich da nur mit einem sehr großen Augenzwinkern sagen: Chronische Bronchitis zählt nicht als Charakter, das gehört behandelt!

Vielleicht definiert sich der Charakter des Motorrads aber nur über das Abbild des eigenen Charakters? Darüber habe ich aber noch nie nachgedacht. Ich fahre lieber…

Heute mal mit der Peitsche in der rechten Hand zum Gruß!