aus Kradblatt 7/19, von Jürgen Theiner
Benzingespräche zum Weglaufen …
300 Kilometer mit dem Motorrad durch die Südtiroler Berge. Großartige Erlebnisse wegen großartiger Freundschaften, unzähliger Kurven, erhitztem Reifengummi und alles durchdringendem Lachen. Aber diese Stories von diesem Super-Typ auf dem Mendel-Pass …
Nach einer speditiven Fahrt auf den Mendel-Pass, während der zwei Superdukes von KTM ihre Motorkraft in den Asphalt drücken durften, streckte ich meine Beine unter den Tisch des Pass-Restaurants. Kurz zuvor befanden sich diese mal links, mal rechts vor dem Motorrad, im Wechsel der Kehren am Berghang oberhalb von Kaltern. Davon würde ich übrigens den ersten Muskelkater des Jahres mit nach Hause nehmen …
Der Zucker in meinem Cappuccino hatte sich noch nicht komplett aufgelöst, als sich ein weiterer Motorradfahrer in den Wintergarten gesellte und sich an den Nebentisch setzte. Er trug eine verschlissene und verdreckte Enduro-Jacke, wirkte leicht derangiert, seine rechte Hand schmutzig grau/eitergelb bandagiert. Meinem Kopfnicken erwiderte er: „Geniales Wetter heute, oder?“
Ein recht kreativer Konversations-Beginn, und so wollte ich mich wieder meinem Kaffee widmen. Dem folgenden Wortschwall konnte ich jedoch nicht entkommen – innerhalb von Augenblicken wurde ich von ihm zugetextet: es liefe schon ganz gut, nicht wahr? Aber er müsste zuerst einen Reifensatz „fertig fahren“, denn nach dem langen Winter verliere man komplett die Übung und könne deswegen nicht redlich Kurven fahren. Aber danach „kann man es wieder richtig krachen lassen“. Offensichtlich war er mit seinen Übungs- und Einstellungsfahrten schon länger beschäftigt, denn „… der Asphalt hat heute die optimale Temperatur.“
Nun, darüber habe ich mir in den letzten 25 Jahren eigentlich nie Gedanken gemacht. Auch heute nicht, anlässlich meiner ersten Fahrt nach dem Winter. Mich kümmerte eher das eigene Befinden: mehr als die Temperatur der Straße ist mir die Temperatur meiner Hände wichtig. Rein vom Fahrgefühl war es bei mir wie immer, trotz langer Winterpause: spaßig, lustig, easy, schräg, kontrolliert und ohne Verspannungen. Das konnte ich aber nicht mitteilen, denn der Kollege am Nebentisch fuhr engagiert fort: heute seien seine Reifen erstmals in ihr „Temperatur-Fenster“ gekommen und „… rutschen aus den Kehren nur maximal 20, 30 cm.“
Nicht schlecht. Ich legte meine Stirn kurz in Falten und versuchte mich zu erinnern. Aber nein, der Monstermotor meiner KTM hat bei der Fahrt auf den Berg – trotz deaktivierter Traktionskontrolle – den Hinterreifen nicht aus der Spur gerissen. Nicht um einen Zentimeter, erst recht nicht um 20 – der auf dem Rheinring angefahrene Corsa-Pirelli verhielt sich komplett unauffällig. Grip war also ausreichend da – der Super-Typ musste also eine extremst starke Maschine oder uralte Reifen fahren, deswegen fragte ich ihn danach.
„Eine Yamaha FZ1 mit dem Motor der R1 – die absolute Waffe!“
Unbestritten ein ernsthaftes Motorrad, wenn auch schwächer und sanfter als (m)eine KTM Superduke. Mit (nur) einem Liter Hubraum, vier Zylindern in Reihe, um die 160 PS und aufrechter Sitzposition ein gutes Gerät im Kurvenreich, deswegen erbot ich ihm mit den Worten „Ah, das ist hier sicher ein geniales Motorrad“ meinen Respekt. Offensichtlich empfand er das aber nicht auch so, denn „… ich komme hier nicht mal in den dritten Gang!“
Ja wie? Er muss mein erneutes Stirn-Runzeln bemerkt haben, denn ohne eine Nachfrage zu erlauben, fuhr er fort: „Unter 7.000 U/min läuft gar nichts, aber dann geht sie brutal vorwärts.“ Und: „Der erste Gang reicht bis 140 …“ und „… dann drehe ich den zweiten Gang bis 11.000 U/min.“
In Gedanken wanderte ich zurück in meine 1000er Vierzylinder-Zeit, und mir fielen wirklich nicht mehr als drei Gelegenheiten ein, in denen ich den Motor meiner Yamaha FZR 1000 Exup auf einer Passstraße höher als 10.000 U/min gedreht hätte. Zu stressig, zu schnell, zu heftig und unkontrollierbar wäre der Vorschub gewesen. „… hier muss man aber schon wissen, was man tut!“
Nun, diesen Gedanken hatte ich in den letzten Jahren immer mal wieder – vor allem auf der Fahrt zum Mendel-Pass.
Auf der engen, bisweilen uneinsehbaren und ausgesetzten Straße, entlang von schroffen Felsen und am Rande eines argen Abgrunds in Richtung Kaltern, sollte man seine Sinne schon immer funktionierend und vollständig beisammen haben. Ein Literbike nur in den ersten beiden Gängen hier hochtreiben, gehört für mich nur bedingt in die Kategorie „Wissen, was man tut.“
„Erst wenn man weiß, welche Kurven man schneiden kann, dann kommt man auf einen guten Schnitt.“
Ich musste meiner gerunzelten Stirn mit einem Kratzen am Kopf nachhelfen. OK, also, man sollte wissen, was man tut, und man sollte wissen, welche Kurven man schneiden kann, um in angemessener Zeit ans Ziel zu kommen. 96 km/h im Schnitt will er so auf einer Fahrt auf die Mendel erreicht haben.
Ich versuchte noch, schönes Motorradfahren mit runden Linien und tiefen Schräglagen mit dem Thema „Kurvenschneiden“ und „Motor gnadenlos ausdrehen“ zusammenzubringen – was mir natürlich nicht gelang – da erklärte mir der Super-Typ seine Ortskenntnis, die ihm das heilbringende Kurvenschneiden erlaubt: „Ich kenne hier ja jeden Stein und kann die Strecke blind fahren.“
Ja, das kann gerne sein. Das sollte ich von meinem Hausberg, dem Stilfser Joch, eigentlich auch sagen können – aber ich hüte mich davor, denn die Straße ist bei jeder Fahrt anders, Buckel entstehen und vergehen, Risse tun sich auf, Asphalt löst sich vom Untergrund und verwandelt sich in rutschiges Geröll. Im Blindflug ist auf dem Motorrad jede Straße eine Todesfalle – und an der Mendel ist es nicht anders. Ich rückte ein wenig von dem Typ weg, seine Aussagen verursachten mir mehr und mehr körperliche Schmerzen. Doch auch damit kannte er sich natürlich aus, denn „… letztens bin ich hier an einer Leitplanke hängengeblieben.“
Sprachlos setzte ich ein verblüfftes Gesicht auf. Beim Anrauchen ging er – seine Wortwahl nun ganz MotoGP-like – in einer Kurve weit und touchierte mit dem linken Fuß den Pfosten einer Leitplanke. Ich wollte noch nachfragen, wie so etwas bei so guter Streckenkenntnis überhaupt vorkommen könne, wollte gleichzeitig anzweifeln, dass ein Leitplanken-Pfosten, der hinter (!) der Leitplanke steht, einen Fuß auf einem schrägliegenden Motorrad als erstes erwischen könne, da erläuterte er das Geschehen nochmals ausführlicher:
„Bremse hinten überhitzt, Motorrad ließ sich deswegen nicht weiter in Schräglage bringen, Notausgang gewählt, Leitplanke als Bande benutzt, nicht gestürzt, Stiefel blieb am Pfosten hängen, beim Stiefel-Ausziehen fielen zwei Zehen heraus.“
Eine bergauf überhitzte Bremse (???) wäre mir nie als Grund für zu geringe Schräglage oder falsche Linienwahl eingefallen.
Es nahm krasse Züge an, ich bekam das Erzählte in keine logische Reihenfolge mehr. Ich stellte mir an einer Leitplanke abgetrennte Zehen vor, die in einem zerstörten Stiefel verblieben, dieser aber vom Super-Typen trotz der schweren Verletzung einfach ausgezogen werden konnte. Ich fuhr meine Reaktionen auf ein saures Lächeln und häufiges Nippen an meinem Getränk herunter.
„Eigentlich fahre ich in Südtirol gar nicht mehr …“ Das leuchtete mir ein. Wer jeden Stein auf und am Weg kennt und die Leitplanken seiner Heimat mit seinen Zehen gegrüßt hat, der sucht gerne etwas Neues.
Er erzählte mir von Touren im Veltlin, im Friaul, im Apennin, dass man „die Po-Ebene ja in einer halben Stunde durchquert“, in der Toskana sei es überhaupt am schönsten. Und – er sei Tour-Guide, jedes Jahr kämen Kollegen aus Deutschland, die ansonsten nur auf der Rennstrecke fahren, zu ihm, um von ihm durch die Landschaft geleitet zu werden. Er werde dafür natürlich gut bezahlt und dürfe gratis übernachten, denn er kenne die Gegend wie seine Westentasche. Bekannte Ortschaften in der Nähe seiner Lieblingsstrecken konnte er mir leider keine nennen, deswegen weiß ich jetzt auch nicht, wo es schöner als in Südtirol ist, aber wenigstens würde er dabei nie überholt. Etwas anderes hätte mich allerdings auch verwundert.
Einer dieser Kollegen, so fuhr er fort, fährt eine 1000er Kawasaki. „Die Neue mit 220 PS und zwei Kupplungen, genau so eine wie in der Weltmeisterschaft.“
Ahja … DAS sei eine Maschine, auf der Mendel-Straße unschlagbar schnell und sein großer Traum. Er würde 10-mal lieber so eine Maschine fahren als z. B. eine Yamaha R1 mit diesem „Geraffel“ von Motor mit „falscher Zündung“, der wie ein „schrecklicher Zweizylinder“, also „richtig Scheiße“, klingen würde und nur langsam auf Touren kommt. Valentino Rossi, dessen Startnummer auf der Yamaha vom Super-Typ klebt, sieht das sicher anders, aber ich glaube, Valentino Rossi ist bisher auch noch nicht auf die Mendel gefahren …
Ich hatte nun genug gehört, um daraus einen schönen Beitrag auf meinem Blog zu machen. Ich drehte meinen Tankrucksack mit dem großen „KTM 1290 Superduke“-Schriftzug demonstrativ in seine Richtung, justierte, für ihn gut sichtbar, meine nur noch zur Hälfte vorhandenen Carbon-Knieschleifer und erhob mich gemeinsam mit meinen Kollegen, um diesem Geschwafel endlich zu entkommen. Sein letzter Satz „Ich fahr’ mit euch runter …“ beschleunigte unser Bezahlen,
Anziehen und Aufsitzen – In dem Moment, in dem ich an meinem schrecklich Scheiße klingenden Zweizylinder-Motorrad den ersten Gang einlegte, startete der Super-Typ seine Yamaha. „Dummerweise” versperrte ihm ein anderes Motorrad für eine Handvoll Sekunden lang den Weg.
Im Laufe dieser Märchenstunde war meine Truppe auf vier Motorrad-Fahrer angewachsen: Kollege Johann (KTM 1290 Superduke R) war mit mir auf die Mendel gefahren, Kollege Rudi (Honda CBR 1000 R SP) und Neu-Kollege Andreas (Aprilia Tuono 1100 V4) stießen dazu. In ungefähr dieser Reihenfolge machten wir uns auf den knapp 18 km langen Weg hinunter ins Tal. Ohne wüste und hier zensurwürdige Aktionen, ohne Messer zwischen den Zähnen und ohne Spuren in der Unterwäsche – einfach in sportlicher Samstag-Nachmittags-Männer-Ausfahrts-Geschwindigkeit – brachten wir unsere Motorräder in die immer wärmer werdende Tiefe.
Von der gelben 46 auf der blauen Yamaha FZ1 mit dem wortreichen HighSpeed-Touren-Guide ohne Zehen war in keinem unserer Rückspiegel etwas zu sehen. Erst kurz vor Ende, mitten auf der Abzweigung nach Oberplanitzing, die in einer nicht besonders übersichtlichen Kurve liegt und in der mein vierköpfiger Trupp hinter einigen anderen Motorrädern herfuhr, presste sich etwas Blaues an mir vorbei.
Die Enduro-Jacke flatterte keck im Wind, das zweigängige Hochdrehzahl-Motorrad drückte sich im Überholverbot an alle anderen dahinrollenden, dem Geschwindigkeits-Limit auf der Kreuzung gehorchenden Maschinen vorbei. Der Super-Typ stellte sich nur wenige Augenblicke später am Ende der Mendel-Straße, demonstrativ und nach Komplimenten fischend, zurück nach oben blickend, hin: „Alle hergebrannt, erster im Tal.“ Kein einziger erhob eine Hand zum Gruß …
Besucht Jürgens Blog „Motorprosa • Geschichten aus der Kurve“ unter www.motorprosa.com. Dort findet ihr weitere Geschichten. Tolle Fotos von Jürgen gibt’s auch auf seinem Instagram-Account unter www.instagram.com/motorprosa. Und wenn ihr ihm in seiner Südtiroler Heimat begegnet, erzählt ihm keine Märchen – er fährt dort schon sein Leben lang die Pässe rauf und runter …
—
Kommentare
Ein Kommentar zu “Der Super Typ – Gespräche auf der Passhöhe”
Danke, sehr eingängig und lebhaft erzählt. Da ist mir einige Male ein Grinsen ins Gesicht gefahren.
Es ist schon erstaunlich, was sich so an überschätzten Geistesgrößen auf den Straßen tummelt.