aus bma 6/13
von Olaf Biethan (www.bvdm.de)

Elektro-Motorrad Brammo Enertia: Eine Alternative?

Brammo EnertiaDa stand sie nun nachts über 2 Monate in meiner Garage und wurde fast täglich bewegt. Klein, Rot und alles andere als gemein, eher fein. Brammo Enertia. 
Wie fährt und bewegt sich ein Elektromotorrad im täglichen Alltag? Welche Probleme gibt es? Der „tägliche Alltag” meint den Weg zur Arbeit oder den Supermarkt im Großstadtraum, auch mal Shoppen in der Stadt oder abends mit Freunden treffen und nicht die große Motorradtour am Wochenende. Ein Fazit vor weg, sie hat einfach Spaß gemacht und auch ganz neue und ungewohnte Erlebnisse gebracht!

Montagmorgen. Es ist kalt. Teilweiser dichter Nebel hängt noch über Stadt und Land. Die Sonne erscheint hinter dem Horizont und würde ohne Nebel blenden. Der frische Geruch der Wiesen am Wegesrand erreicht die Nase und lässt einen die Natur riechen im Gegensatz zu den Leuten die jetzt im Auto zur Arbeit fahren. Und als akustische Untermalung einzig die Windgeräusche am Helm. Ganz neue und intensive Reize für die Sinne. Warum muss bei vielen ein Motorrad eine laute Auspuffanlage haben? Auch der Wind hat seine Reize und man gewöhnt sich schnell daran. Einmal spät abends fahre ich in eine Ortschaft rein und Sekunden später schießt mir durch den Kopf, dass die Windgeräusche viel zu laut sind für Tempo 50. Der Blick auf den Tacho gibt mir Recht. Auch ohne Vibrationen eines Verbrennungsmotors und Auspuffgeräusche entwickelt man schnell ein Gefühl für die Geschwindigkeit.

Brammo Enertia SchnittmodellBei den Tankstellen habe ich nicht mehr täglich geschaut, ob die ständig und teilweise extrem wechselnden Spritpreise gerade günstig sind. Ich zahlte 2012 das ganze Jahr über 0,2469 Euro/kWh und das für 100% Öko-Strom, also Strom aus erneuerbaren Energien. Das gibt Planungssicherheit und wenn erforderlich suche ich mir bequem zuhause einen neuen Stromlieferanten.

Wie fährt sich die Brammo? Einfacher als jedes Motorrad mit Verbrennungsmotor. Zündung ein. Startknopf drücken – und gefühlt lange warten. Es waren nur Sekunden, aber wenn man es morgens eilig hat erhofft man sich eher irgendeine Reaktion. Wenn dann ein paar grüne Lampen blinken einfach am Gasgriff drehen und bei Bedarf mit absolut konstanter Beschleunigung bis max. 105 km/h beschleunigen. Da ist Schluss. Kein schalten, kein kuppeln, kein ruckeln. Umgekehrt genauso. Einfach mit rechter Hand die Vorderradbremse betätigen oder mit dem rechten Fuß die Hinterradbremse, so wie man es als Motorradfahrer kennt. Die linke Hand und der linke Fuß können während der ganzen Fahrt entspannen. Allerdings fehlt das beim Gas wegnehmen bekannte Bremsmoment vom Viertaktmotor und eine Energierückgewinnung beim Verzögern hat die Brammo leider auch (noch) nicht. Man muss also stärker bremsen als man es normal gewohnt ist.

Fahrwerk und Bremse machen den Eindruck als könnten sie eine deutlich größere Leistung und Geschwindigkeit verkraften. Morgens mit Höchstgeschwindigkeit (also 105 km/h) in die langgezogene Autobahnabfahrt, die dann abrupt einen Schwenk nach links und noch enger nach rechts macht. Die Brammo liegt absolut stabil und lässt sich präzise und sicher dirigieren. Das Fahrwerk könnte man schon als sportlich bezeichnen. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass kurze Bodenunebenheiten, z.B. Schweller auf der Straße, Kanten im Fahrbahnbelag, Schlaglöcher ziemlich direkt weiter gegeben werden, da die Dämp­fung sehr straff ist. Allerdings ist die Brammo auch das erste E-Bike, bei dem man beim Einfedern im Stand kein Losbrechmoment an den Gabeldichtungen spürt, was für die Dämpfer spricht. Lediglich die Fußbremse ist gewöhnungsbedürftig. Die Verzögerung ist zwar gut, doch bewegt sich der Fußbremshebel gefühlsmäßig überhaupt nicht. Eine stärkere Bremswirkung wird alleine durch Erhöhung des Pedaldrucks erzeugt.

Brammo Enertia HeckDass die Reichweite von E-Bikes noch lange nicht ausreicht, um eine ausgedehnte Sonntags-Motorradtour zu machen, sollte allgemein bekannt sein. Aber von denen die das bemängeln nutzen viele an Wochentagen das Auto um zur Arbeit zu kommen. Genau hier liegt die Stärke von E-Bikes, besonders im urbanen, also großstädtischen Verkehr. Und so wurde die Brammo knapp 1200 km genau hierfür genutzt und auf ihre Eignung geprüft. Und genau hier liegt auch ihre Stärke. Extrem leicht und handlich. Das Wenden ist auf einer leicht erweiterten Fahrspur möglich und so ist es auch im Stau kein Problem mal eben zwischen stehenden Autos die Spur zu wechseln. Die Sitzhöhe ist angenehm und auch kleinere Fahrer haben kein Problem mit den Füßen sicher auf dem Boden zu stehen. Die Waage zeigte exakt 149 kg. Vom Gefühl her war sie jedoch leichter und handlicher als eine 135 kg Enduro. 

Mein schnellster Weg zur Arbeit betrug knapp 15 km und führte mich in 2,5 km zum Autobahnring. 8,5 km Autobahn, 2,5 km Schnellstraße und anschließend 1,5 km Stadtstraßen. Für die Brammo bedeutete dies fast alles unter höchster Last (100 km/h), also geringste Reichweite für jedes E-Bike. Der Akku zeigte dann abends im Schnitt noch 10% an. Bei ungefähr gleicher Strecke durch die Stadt, mit Ampeln und maximal 50 km/h waren es gut 40%. Die Reichweite eines E-Bikes hängt also stark von der Fahrweise ab. Auch die Temperatur spielt eine etwas größere Rolle. Sie schwankte während des Test zwischen +24°C und -5°C. Gemessen jeweils zum Feierabend um 17 Uhr mit der im Tacho angezeigten Temperatur. An den warmen Tagen lag die Restkapazität abends in der Garage deutlich über 10%. An den kalten (0-5°C) habe ich es dann auf dem letzten Kilometern lieber etwas langsamer angehen lassen und erreichte dann mit 3-4% Restkapazität die Garage, nach einer täglich exakt gleichen Strecke. Deutlichen Einfluss hat hier die Batterietemperatur. Fährt man zügig und schnell wird die Wärme die beim Entladen der Batterie oder am Motor entsteht abgeführt. Wechselt man von der Autobahn auf die Stadtstraße und steht auch mal an einer roten Ampel, wird die Batterie erwärmt und die Restkapazität steigt wieder. Wohlgemerkt wir Reden hier von Temperaturen zwischen 0 und 5°C. Wer dann noch fährt, für den ist es relevant.

Brammo Enertia mit Givi-KoffernFeierabend und Kühlschrank ziemlich leer. Also schnell noch mal 3 km zum Supermarkt. Dem E-Bike ist es egal ob die Fahrt­strecke nur kurz ist. Kurzstrecken Schaden dem Motor nicht. Es gibt zwar Packtaschen für die Enertia. Am Testmotorrad waren sie aber nicht montiert. Es gab keinerlei Möglichkeit Gepäck zu transportieren. Also mal in der Garage geschaut. Magnetische Tankrucksäcke scheiden aus. Die mit speziellen Befestigungssystemen ebenso wie meine Enduro Tankrucksäcke. Aber ganz hinten in der Ecke meiner Garage finde ich dann, fast vergessen, die Lösung. DER Tankrucksack früherer Motorradfahrer Generationen: Harro Elefantenboy! Er lässt sich fast perfekt auf der Enertia montieren. Zusammen mit einem großen Rucksack auf dem Rücken ist das Einkaufsvolumen im Supermarkt nun ausreichend für einen Singlehaushalt.

Zurück durch eine Verkehrsberuhigte Zone und Spielstraße bestätigt sich dann eine andere Vermutung. Die Leute und Kinder schauen nicht nach dem Verkehr, sie hören ihn. Mit einem fast lautlosen E-Bike (wenn nicht gerade der Lüfter läuft) ist gerade auf Straßen mit geringem Tempo erhöhte Vorsicht angeraten und der Daumen der linken Hand sollte möglichst in der Nähe der Hupe bereit sein. Auf großen Straßen hat man dieses Problem nicht

Brammo-Enertia-rechts-in-FahrtBrammo in die Garage, Ladekabel unter der Sitzbank hervorgeholt und ab in die normale 220V Steckdose, Einkäufe auspacken und bis zum nächsten Morgen das Motorrad vergessen. So habe ich es zumindest zuerst gemacht. Sowie die Brammo ans Stromnetz kommt geht ihr Standlicht an, beginnt der Lüfter zu laufen und natürlich wird die Batterie mit ca. 4 A geladen. Eine komplett leere Batterie ist nach 3,5-4 Stunden wieder geladen. Leider schaltet sich die Elektronik dann nicht ab und die ganze Nacht beleuchtet das Motorrad die Garage, wenn das Kabel in der Steckdose steckt. Konstant benötigt die Brammo dann ohne weiteren Nutzen 0,3-0,4 Ampere Strom. Das geht auch energiesparender. Praktisch könnte man eine Zeitschaltuhr dazwischen hängen. Die Firma Vectrix zeigt aber, dass es auch ohne geht.

Der Verbrauch: Nominell hat die Enertia eine Batteriekapazität 3,1 kWh. Da ein Lüfter zum Kühlen mitläuft (und das Licht brennt) ist der benötigte Strom je Ladevorgang größer. Das ist so auch bei anderen E-Bikes. Anfänglich waren es dann bis zu 4,25 kWh die der Stromzähler am nächsten Morgen anzeigte. Nachdem ich dazu überging, wenn möglich, den Stecker nach 4 Stunden zu ziehen waren es 3,5 bis 3,8 kWh. Der Verbrauch schwankt je nach Fahrweise. Bei den beschriebenen zügigen Fahrten zur Arbeit waren es ca. 13,5 bis 13,8 kWh/100 km. Bei normalem aber zügigen Fahren in der Stadt waren es um die 10 kWh/100 km. Und wenn man es dann sehr gemütlich angehen ließ, z.B. weil man sich im Stau mit sehr geringem Tempo durch die stehenden Autos arbeiten muss, ging der Verbrauch auf ca. 8 kWh/100 km herunter.

Brammo Enertia ChargingFür den täglichen Weg zur Arbeit waren es ca. 3,5 kWh die täglich benötigt wurden. Bei dem oben genannten Strompreis sind das 0,86 Euro täglich. Mein sparsamstes Motorrad mit 3,5 l/100 km hätte auf der gleichen Strecke mindestens 1 Liter Super zu aktuell 1,60 Euro benötigt. Die zweifache Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostet 4,80 Euro bei mehr als vierfacher Fahrzeit.

Das lässt einen schon den Bleistift spitzen, wenn man tägliche Wege im Großstadtverkehr zurückzulegen hat. Hier kann sich ein Elektrofahrzeug, je nach Bedürfnis, schon heute rechnen.
Zurück zum Testobjekt: Brammo Inc. ist eine Firma mit Hauptquartier in Nordamerika, das die Elektromotorräder, zusammen mit Partner in den verschiedenen Bereichen (z.B. Marzocchi beim Fahrwerk) entwickelt und an verschiedenen Orten baut. Die hier getestete Enertia wurde z.B. in Ungarn gebaut, die 2013er Brammo Empulse – ein schicker Café-Racer – in den USA. Eigentlich wollte man uns erst die Ende des Jahres erschienene technisch identische Enertia Plus für einen Test zur Verfügung stellen. Diese hat mit 6,2 kWh eine doppelt so große Batterie und entsprechend größere Reichweite. Die Batteriekapazität der getestet Enertia (ohne Plus) ist laut Hersteller nicht marktfähig in Deutschland. Im Test mit der Ener­tia waren unter voller Last ca. 30 km möglich. Bei moderatem Tempo im städtischen Raum 50 km. Für den Test hat es gereicht. Meine „normalen” Motorräder wurden in den Wochen sehr selten genutzt und nur wenn es die Reichweite erforderte. Und jedes Mal bin ich dann auf die erste Ampel stotternd im hohen Gang zugerollt. Man gewöhnt sich schnell daran, nicht mehr schalten zu müssen.

Die positiven Emotionen die die Enertia auf dem Intermot 2012 Probefahrt Parcour, ausgerichtet vom BVDM, geweckt hat, als eines der meist gefahrenen Motorräder unter ca. 120 verschiedenen, wurden bestätigt. Leicht, handlich unkompliziert. Ideal für den täglichen Weg zur Arbeit oder die Kurzstrecke. Und vor der Eisdiele oder im Stadtzentrum kommt man schneller ins Gespräch mit interessierten Mitbürgern, als mit einem anonymen Superbike. 

Vollgedreckter LuefterBleiben die Standardfragen:
Leistung? Laut Hersteller Datenblatt 13 kW (Peak Motor Power) bei 4500 Umdrehungen und einem Drehmoment von 40 Nm. Laut Fahrzeugschein war sie ein Leichtkraftrad mit 6 kW Leistung. Egal wie, sie fuhr echte 105 km/h, hatte ein kleines Kennzeichen und war für den täglichen Weg zur Arbeit einfach optimal.

Preis? Die Brammo Enertia kostet derzeit 6.796 Euro. Die Enertia Plus mit doppelter Batteriekapazität 10.710 Euro. Die schicke Empulse gibt’s für 14.800 Euro.

Und der Sound? Beim Fahren abhängig vom Helm und einfach einmalig!
Und was gibt es aus Sicht des Testers zu verbessern? Zum einen das Transportvolumen. Es muss ja kein Urlaubsgepäck sein. Aber nach Feierabend noch schnell mal Brot, Milch oder was so fehlt einkaufen und verstauen sollte und muss möglich sein bei einem Alltagsfahrzeug. Zum zweiten, der sinnlose Stromverbrauch wenn die Batterie voll ist. Batterie voll, alle Verbraucher aus! Dies sollte einfach möglich sein. Zum dritten und wohl schon etwas aufwendiger in der Regelung und damit teurer in der Anschaffung. Bei einem Elektrofahrzeug macht es aus umweltgründen einfach Sinn die Bremsenergie zurückzugewinnen und damit auch die Reichweite zu erhöhen. Dies sollte ein zeitgemäßes E-Bike bieten. Das es geht, beweist Brammo mit der Enertia Plus und der Empulse, bei denen „Regenerative Braking” zur Serienausstattung gehör. 

Da geht auch mit Verbrenner nichts...Und als letztes, die Reifen. Wahrscheinlich haben die Entwickler gar nicht daran gedacht, dass man mit dem Fahrzeug auch im Winter fährt. Kalt und nass hinterließen die AVON Reifen einen unsicheren Eindruck. Als es im Laufe eines Arbeitstages aber heftig schneite, waren sie auf dem abendlichen Weg nach Hause schlicht überfordert, im Vergleich zu allen Straßen-Motorradreifen die ich bisher bei vergleichbaren Bedingungen gefahren bin. Dabei hat die Brammo die besten Voraussetzungen bei diesen Straßenverhältnissen gegenüber einem Motorrad mit Verbrennungsmotor. Die Kraft am Hinterrad lässt sich feinfühlig und gut kontrollieren. Ohne Einfluss von Lastwechselreaktionen beim Schalten und den entsprechenden Reaktionen auf glatter Straße. Die Bremse ist gut dosierbar. Und genau deswegen habe ich meine Garage an diesem Tag auch glücklich und ohne Blessuren erreicht.

In nicht zu ferner Zeit werde ich ein Motorrad mit Elektroantrieb für den täglichen Weg zur Arbeit nutzen. Der Weg wird billiger, umweltfreundlicher und es macht einfach Spaß damit zu fahren. 
Mehr Infos zu Brammo gibt’s online unter www.brammo.com.
Interessant ist auch die Website von MMS-Concept.