aus Kradblatt 4/18
Infos + Fotos: Costantino Frontalini/Italien
Deutsche Bearbeitung: Robert Waldow

Borgo Reading Standard, ein Luxus-Gespann mit 4 Sitzplätzen im Beiwagenmuseum in Cingoli (I)

Borgo Reading Standard Gespann, Bj. 1918 Das Sidecar Museum (Museo del Sidecar, Italy) ist ein Kulturverein, der sich bemüht, die Geschichte des Motorradgespannes aufzuzeigen und wach zu halten.

Es gibt sicherlich eine Reihe von Museen mit und über Motorrädern und ein Teil der ausgestellten Exponate hat sogar einen Beiwagen aber einzigartig ist das Museo del Sidecar in Italien. Dieses Museum beschäftigt sich ausschließlich mit Motorradgespannen, bietet kulturelle Aktivitäten an, listet Kinofilme in denen Gespanne eine gewisse Hauptrolle spielen, und „last but not least“ steht es auch anderen Museen, Sammlern und Liebhabern von Motorradgespannen beratend zur Verfügung.

Museo del Sidecar in Cingoli / Italien In den fast 30 Jahren seines Bestehens hat das Sidecar-Museum auch eigene Publikationen herausgebracht (leider z.Zt. nur in italienischer Sprache), darunter z.B. folgende Bücher: Felice Pacifici (Langstreckenfahrer), Geschichten von Extrem-Bikern in den 20er Jahren; Sidecar dalle origini ai nostri giorni (Gespanne von den Anfängen bis heute); GUZZI – Il volo dell’Aquila (Die Geschichte und Modelle des größten italienischen Motorradherstellers). Die Veröffentlichung eines Buches über die Geschichte des Motorrads im Film steht bevor.

Im Museum selber sind mehr als 100 Fahrzeuge untergebracht, die in zwei Hauptabschnitte unterteilt sind:

  • Geschichte der Motorrad-Gespanne
  • Motorrad und Kino / Film

Der erste Abschnitt zeigt historische Motorradgespanne von 1885 bis 1960. In den späten 50er bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, als Kleinwagen aufkamen, verschwand das Motorradgespann mehr und mehr.

Borgo Reading Standard Gespann, Bj. 1918 Im zweiten Teil der Ausstellung findet man Nachbauten von Motorrädern und Gespannen die in großen Filmen vorkamen. Ausgehend von den Ursprüngen im amerikanischen Stummfilm bis heute.

Das neueste Exponat der Ausstellung zieht die größte Aufmerksamkeit auf sich. Ein Exemplar des amerikanischen Herstellers Reading Standard. Ein Gespann mit 1200 ccm V-Motor, 16 PS und vier Sitzplätzen.

Für die besondere Zuneigung zu diesem Schmuckstück gibt es eine Reihe von Gründen: Eine lange Suche, die von der extremen Seltenheit dieses Motorradmodells herrührt. Eine lange Restaurierungsarbeit, die den damaligen Kriterien treu gefolgt war, den Pioniergeist des ursprünglichen Produkts so weit wie möglich wiederzuspiegeln. Eine besondere Ausstattung mit teils ganz besonderem Originalzubehör der Zeit.

Das Ergebnis ist in jeder Hinsicht ausgezeichnet. Die visuelle Erscheinung hinterlässt bei jedem Besucher einen nachhaltigen Eindruck.

Ein weiterer Aspekt ist die Leichtigkeit des Fahrens mit dem Fahrzeug. Das Fahrzeug strahlt den Charme und Geist der Motorradpioniere aus, die durch ihren Mut, ihre Kompetenz und ihre Opfer uns den heutigen Komfort solcher Fahrzeuge schätzen lässt.

Borgo Reading Standard, Baujahr 1918 – Gespann mit 4 Sitzen

Borgo Reading Standard Gespann, Bj. 1918 1903 wurden zwei sehr wichtige Motorradmarken gegründet: zum einen Harley-Davidson und die Reading Standard. Letzterer Firmenname entstand aus der Kombination des Namens der Gründungsstadt (Reading, Pennsylvania) und als Marketingidee aus dem Begriff „Standard“ als ein Synonym für ein bewährtes und hochwertiges Produkt.

„Built and tested in the mountains“, wurde als Werbeslogan gerne verwendet. Wobei die Stadt Reading selber nur auf einer Höhe von ca. 80 m ü.NN liegt und der angrenzende Gebirgszug South Mountain auch nur eine Höhe von ca. 420 m aufweist, kam es doch zu einem beachtenswerten Rekord: 1907 befuhren drei Reading Standard Maschinen den „Pikes Peak“, was in den folgenden 5 Jahren kein anderes Motorrad bewältigte.

Im Jahre 1916 wurde dann zum ersten Mal das Berg­rennen „Pikes Peak International Hill Climb“ ausgeführt. (Start bei 2860 m ü.NN, Ziel 4300 m ü.NN, Strecke 20 km)

Borgo Reading Standard Gespann, Bj. 1918 Das Testen der Motorräder in den Bergen und deren Erfolge wurden als eine Garantie für Qualität gewertet. Der Werbeslogan hielt sein Versprechen: Reading Standard-Maschinen galten als die zuverlässigsten Motorräder ihrer Zeit! Das Motorrad spiegelte mit dem V-Motor und mit 1200 ccm die Grundphilosophie der amerikanischen Motorradmotorproduktion seiner Zeit wieder.

Die Kupplung konnte per Handhebel an der Seite des Tanks oder mit dem Fuß betätigt werden. Die Gänge wurden mittels eines Hebels neben der Kupplung geschaltet.

Die Riemenbremse am Hinterrad hat eine Doppelfunktion. Die Außenseite der Trommel wurde durch ein Pedal betätigt, die Betätigung der Innenbremse erfolgte über einen Handhebel und fungierte gleichzeitig als Feststellbremse.

Der Sattel war anatomisch gestaltet, gut gepolstert und mit einem zusätzlichen Doppelfedersystem versehen. Zwei große Fußstützen und eine ergonomisch gestaltete Lenkstange garantierten eine stabile Fahrzeugführung.

Die Räder in der Größen 28 x 3,00 Zoll waren mit den damals modernsten Reifen der 1920er Jahre ausgestattet

Ein weiterer Werbeslogan lautete: „When an RS wins you know it is a stock machine. We build no specials”. Eine Formel, die die hervorragende Serienproduktion des Motorrads bezeugte, ohne auf besondere Sonderausführungen zurückzugreifen.

Wie kam die Reading Standard nach Italien?

Borgo Reading Standard Gespann, Bj. 1918Der Ursprung der Firma Borgo liegt in der 1899 gegründeten Firma „Italian fabbrica velocipedi and motocicli borgo“.

Die drei Borgo-Brüder, Carlo, Alberto und Edmondo firmierten ab 1906 unter dem Namen „Moto Borgo“.

Der Name Borgo fand sowohl bei normalen Straßenfahrzeugen als auch im Rennsport Beachtung. Edmondo und Carlo waren dem Rennsport verbunden und gewannen zahlreiche Rennen. Carlo Borgo gewann 1914 den großen Preis von Italien. Der Ruf der robusten Motorräder verhalf der Firma im Ersten Weltkrieg zu einer Großbestellung mit dem Volumen: „so viele Motorräder wie möglich“.

Um amerikanische Motorräder und deren hohe Qualität zu studieren, reiste Edmondo Borgo in die Vereinigten Staaten, wo er gute Geschäftsbeziehungen aufbaute.

Als er wegen der schlechten Materialverfügbarkeit auf die Lieferung für die Armee verzichten musste, schlug er vor, den Reading Standard, der häufig an Seitenwagen verschiedener Größen gekoppelt war, durch die Marke „Borgo-Reading“ zu ersetzen. Das ausgezeichnete Prestige des Produktes „Borgo“, gepaart mit der ausgezeichneten Qualität von Reading Standard, führte zur Lieferung von 1500 Motorrädern und Motorradgespannen.

Der „Borgo-Reading“-Verkauf dauerte bis 1922 an. Bis zu dem Zeitpunkt als die Firma Reading Standard in Pennsylvania ihre Tore schloss.

Borgo Reading Standard Gespann, Bj. 1918 Ein weiteres Glied in der Produktionskette war die 1914 gegründete Firma „Molineris F.I.S“. (Fabbrica Italiana Sidecars).

Durch Eleganz, Platzangebot und Qualität der Beiwagenmodelle wurde Molineris schnell zu einem Markennamen. Aber auch die Expansion der Motorradindustrie im Lande und speziell von Turin spielte für den Aufstieg eine wichtige Rolle.

Molineris F.I.S lieferte an diverse Gespannhersteller aber der wichtigste Kontakt war Moto Borgo, welcher im Jahr etwa 1200 Gespanne für die Armee bereitstellte. Es war eine der wichtigsten Motorradpartnerschaften aller Zeiten. Leider nur über einen Zeitraum von wenigen Jahren.

Reading Standard schloss 1922, Molineris F.I.S. schloss Mitte der 20er Jahre und ab 1926 widmete sich Moto Borgo ausschließlich dem Bau von Kolben. Unter der Zusammenarbeit dieser drei Firmen war jedoch der größte und auch eleganteste Beiwagen seiner Zeit entstanden.

Ein Exemplar aus dieser Zeit ist nun in einem exzellenten Zustand im „Museo del Sidecar“ in Cingoli in Italien zu finden.

Als Fahrzeug mit vier Sitzplätzen ist es mit der Technik und den Materialien der Epoche perfekt restauriert.

Die Färbung ist im klassischen Olivgrün, wie es damals von Harley-Davidson und anderen amerikanischen Herstellern, die Militärfahrzeuge produzierten, verwendet wurde. Das Motorrad wurde teilweise repariert und vernickelt, einige Teile wurden im Originalzustand belassen.

Der Gespannaufbau ist mit Originalzubehör versehen, welches für sich schon Aufmerksamkeit verdient. Reichhaltige Instrumentierung: Drehtachometer (mit teilw. Tageskilometer), Uhr und „dekoratives“ Licht für Fahrt im Dunkeln. Großer Frontscheinwerfer, rotes Rücklicht und Nummernschildbeleuchtung.

Die Motorrad- und der Beiwagenscheinwerfer, werden von einem Behälter mit Acetylengas versorgt. Der Soziussitz hat eine eigene Federung, eine verstellbare Rückenlehne und entsprechende Fußrasten. Unter den kuriosen Anbauteilen befindet sich auch eine manuell zu bedienende Hupe aus dem Hause Klaxon. Ein kleiner Druckluftzylinder dient zum Aufpumpen der Reifen im Notfall.

Mechanische Hand, Borgo Reading Standard Gespann, Bj. 1918 Besonderes Augenmerk verdient die mechanische Hand, ein Zubehör für die Sicherheit. Die mechanische Hand sollte die Hand des Motorradfahrers ersetzen, der nach einem Gesetz der 20er Jahre den Arm heben musste, wenn er sich entschied, anzuhalten oder nach rechts bzw. links die Fahrtrichtung zu ändern. Die eigene Hand, auch nur für ein paar Sekunden, von der Lenkerstange zu nehmen konnte den Fahrer in eine schwierige Situation bringen. Die „mechanische Hand“ löste dieses Sicherheitsproblem.

Der Beiwagen ist ebenfalls mit einer Acetylenleuchte mit weißem Vorderlicht und rotem Rücklicht versehen. Für Beifahrer steht eine eigene große Ballhupe zur Verfügung.

Das Museo del Sidecar findet man in der Via Valcarecce 13, 62011 Cingoli MC (Italien) sowie online unter www.sidecar.it und auf www.facebook.com/museo.delsidecar.