aus bma 08/05

von Klaus Herder

Die Bitte des altgedienten BMW-Mitarbeiters klang zunächst etwas ungewöhnlich: „Bitte schreibt, daß sie praktisch unfahrbar ist, ein Monster, ein Tier, daß nur von echten Männern beherrscht werden kann und für Normalos im Grunde genommen lebensgefährlich ist.” Die Erklärung für sein vermeintlich merkwürdiges Ansinnen lieferte er sofort nach: „Gutmütige Motorräder, die von jedem kinderleicht bewegt werden können, haben wir schon genug. Wir brauchen endlich etwas richtig Böses im Programm.”
So ähnlich müssen auch die BMW-Verantwortlichen bei der Konzeption des K 1200 R-Prospekts gedacht haben, denn machomäßiger (pubertärer?) kam noch kein weißblaues Werbematerial daher. Kostprobe gefällig? Bitteschön: „Manche Männer sind Männer. Und manche sind es nicht. Die BMW K 1200 R findet definitiv den Unterschied.” Aha. Warum dann aber im dazugehörigen Ausstattungs-Folder die Positionen „Fahrersitz niedrig” und „Heizbare Griffe” zu finden sind, erschließt sich dem interessierten Leser nicht auf Anhieb. Oder sollen sich womöglich auch zwergwüchsige Frostkötel für „das stärkste in Serie gebaute Naked Bike der Welt” (dieser Hinweis ist im Prospekt gleich fünf Mal zu finden) interessieren? Wie auch immer, jedenfalls frönt genau der Motorradhersteller, der zu seligen Zweiventilboxer-Zeiten in ziemlich arroganten (und gleichzeitig hilflosen) Zeitungsanzeigen alle Motorräder über 100 PS für Teufelszeug erklärte, dem PS-Fetischismus. Aber was schert mich mein Geschwätz von gestern? Eben.
Und nun haben wir den Salat: 163 PS bei 10250/min und 127 Nm bei 8250/min. Von BMW! Es handelt sich bei der K 1200 R übrigens nicht um „eine gestrippte S”, denn das würde bedeuten, daß der vollverschalte Sportler dem Nacktmodell voraus gewesen wäre. War er aber nicht, denn beide Modelle wurden parallel entwickelt, die S könnte also auch eine vollverkleidete R sein. Motor, Rahmen und Fahrwerk der beiden BMW-Flaggschiffe sind jedenfalls baugleich. Zumindest beinahe, denn wo sich bei der S viel Technik unterm Kunststoffkleid verstecken läßt, herrscht bei der R akute Platznot. Die Motorelektronik sitzt bei ihr links hinterm Scheinwerfer, womit nur noch Raum für einen, nämlich rechts montierten, Schnorchel blieb. Die geänderte Ansaugluftführung ist es denn auch, die im Vergleich zur S für vier PS weniger Leistung und ein um zwei Nm geringeres maximales Drehmoment verantwortlich ist. Was bei immer noch recht beachtlichen Beschleunigungswerten von 0 auf 100 in unter drei Sekunden und von 0 auf 200 in etwas über acht Sekunden niemanden ernsthaft stören dürfte, die Übersetzung der R ist ja auch minimal kürzer. Ach ja: „Das stärkste in Serie gebaute Naked Bike der Welt” (Hatten wir das schon erwähnt?) rennt maximal 262 km/h. Gemessen haben wir es lieber nicht, aber der Wert steht im Kfz-Schein und dürfte damit einigermaßen glaubhaft sein.

 

Die erste Kontaktaufnahme mit der mit 19 Litern Super Plus vollgetankten und mit jeder Menge Sonderausstattung bestückten R ist überraschend unspektakulär. Die Fuhre wiegt 247 Kilogramm, ein nackter Vierventilboxer ist auch nicht leichter und trägt seine Pfunde in spürbar luftigerer Höhe. Die R wirkt ohnehin recht niedrig, der um 55 Grad geneigt eingebaute Vierzylindermotor hat an der Flacheisen-Anmutung natürlich eine nicht unerhebliche Mitschuld. Die Sitzbank ist in Tanknähe noch schmaler als bei der S geschnitten, mit den 820 Millimetern Sitzhöhe kommen normalwüchsige Fahrer also auch im Stand bestens klar und haben bei flotter Gangart viel Platz zum Turnen. Die eingangs erwähnte 790-Millimeter-Bank dürfte damit nur für Beinamputierte oder Frauen interessant sein. Oder auch nicht, denn „das stärkste in Serie gebaute Naked Bike der Welt” (falls wir das noch nicht hatten…) ist laut Prospekt ja schließlich ein Männermotorrad. Oder so. Um bequem an den perfekt, nämlich nur leicht gekröpften und nicht zu breiten Alulenker zu kommen, bedarf es schon ausgewachsener Männerarme. Wer die hat, sitzt leicht nach vorn geneigt und ziemlich entspannt sowie mit nahezu perfektem Knieschluß am etwas kürzeren Kunststofftank. So oder so ähnlich waren auch die Superbike-Helden der frühen 80er Jahre untergebracht: bequem und trotzdem angriffslustig. Für den Sozius gibt’s ein nicht gerade überbreites Plätzchen, dessen Format für Menschen mit Konfektionsgröße 34 bis 42 absolut in Ordnung geht, für die klassische BMW-Ü44-Klientel aber womöglich etwas dürftig ausfällt. Oder um es deutlicher zu sagen: Dickärschige BMW-Klapphelm-Muttis sind auf der R völlig fehl am Platze.
Der Fahrer-Arbeitsplatz ist bester BMW-Baukasten: Etwas GS, etwas ST, weitgehend übersichtlich und mit diesen wunderbar dämlichen Blinkerschaltern bestückt, von denen es gleich drei gibt (links, rechts, aus). Wer auch immer sich die BMW-Blinkerbetätigung ausgedacht hat, der hat etwas Großartiges geschaffen, nämlich das letzte große Rätsel der Menschheit. Das Sitzen auf der R hat einen weiteren riesengroßen Vorteil: Man muß diesen unsäglichen Scheinwerfer nicht sehen. Nichts gegen ein schön fieses Böse-Buben-Design, doch die Verpackung des von der GS stammenden Doppelscheinwerfers sieht so aus, als ob sich ein Fünfjähriger aus silber übergejauchten Joghurtbechern eine Playmobil-Raumstation basteln wollte.
Designkritische Betrachtungen sind aber komplett vergessen, wenn der Vierzylinder nach völlig problemlosen Kalt-, Warm- oder Heißstart die Arbeit aufnimmt. Ab dem erstem Moment gibt’s tadellose Gasannahme und etwas irritierte Blicke in Richtung Kupplungshand und Schaltfuß. Ist da irgendetwas verrutscht, gibts einen groben Bedienungsfehler? Nein, alles okay. Und wir dachten schon, das Schaltkrachen gehörte bei BMW der Vergangenheit an. Irrtum, zumindest in den ersten drei von sechs Gängen gibt das BMW-Getriebe kräftig Laut. Gemütliche Innenstadt-Bummelei macht mit der R nur sehr bedingt Spaß. Der im Bummelbetrieb recht stramm agierende Lenkungsdämpfer macht Kreisverkehre zum Kraftakt, die nicht gerade bescheidene Masse fordert in Verbindung mit dem ellenlangen Radstand (1580 mm) in engen und langsamen Kurven Tribut.
Die R giert nach der Landstraße mit möglichst weiten und schnellen Kurven. Der Belag darf dabei gern zweite oder dritte Wahl sein, denn das R-Fahrwerk bügelt einfach alles sensationell platt. Die Vorderradführung übernimmt dabei der „Duolever”, ein patentiertes System aus Doppellängslenkern, älteren Semestern vielleicht noch als „Hossack-Gabel” in Erinnerung. Das Teil spricht unglaublich sensibel an und im Vergleich zur K 1200 S steht der Duolever der R 0,4 Grad steiler, was wiederum den Nachlauf von 112 auf etwas handlichere 101 Millimeter verkürzt. An der Hinterhand sorgt der bewährte BMW-Paralever für sauberen Bodenkontakt und einen möglichst lastwechselfreien Endantrieb. Wer bei der R-Bestellung für 650 Euro die Sonderausstattung Nummer 416 geordert hat, ist mit ESA unterwegs. Das steht für „Electronic Suspension Adjustment” und erlaubt es, die Federung und Dämpfung bequem per Knopfdruck vom Lenker aus zu verstellen. Im Stand und bei laufendem Motor kann der Fahrer die Federbasis am hinteren Federbein variieren (Solo, Solo mit Gepäck, Sozia plus Gepäck). Auf Wunsch, auch während der Fahrt, lassen sich die Zugstufendämpfung an Vorder- und Hinterrad und auch die hintere Druckstufendämpfung verändern. Die Verstellung klappt kinderleicht und ist erstaunlich wirksam, drei Programme (Normal, Komfort, Sport) stehen zur Wahl. Ein übersichtliches Display verrät, in welchem Modus man gerade unterwegs ist. „SA-Nr. 416” ist jedenfalls ihr Geld wert. Was auch und erst recht für „SA-Nr. 645” gilt. 1050 Euro kostet die beliebteste aller BMW-Sonderausstattungen: Das Integral- ABS. Den Blockierverhinderer gibt’s für die R in der (O-Ton) „sportlichen Teilintegralvariante”. Teilintegral heißt, daß bei Betätigung des Handbremshebels vorn und hinten gleichzeitig verzögert wird, der Fußhebel ist ausschließlich für die Hinterradbremse zuständig. Die Bremsdosierung ist etwas gewöhnungsbedürftig, denn der Bremskraftverstärker macht seinen Job etwas zu gut. Anders gesagt: Die Stopper packen bereits bei nur scharf angegucktem Bremshebel mit etwas Verzögerung, dann aber um so härter und nur schwer dosierbar, zu. Für mit normaler Handkraft gesegnete Fahrer erschließt sich nicht unbedingt welchen Vorteil der Brems-kraftverstärker bieten soll, weniger wäre hier vielleicht mehr gewesen. Trotzdem: Das BMW-ABS ist ein Muß. Allein schon deshalb, weil eine R ohne ABS als Gebrauchtmaschine nahezu unverkäuflich sein dürfte. Wer noch etwas Extra-Kohle übrig hat, kann sich für 195 Euro die Sporträder gönnen. Die sehen wie bei der S aus, am Hinterrad ist dann ein Sechszöller mit einem 190/50 ZR 17 montiert. Serienmäßig sind die von der R 1200 ST bekannten Räder mit Gummis in den Größen 120/70 ZR 17 und 180/55 ZR 17.
Bislang war hier von sehr technischen, sehr vernünftigen Sachen die Rede. ESA, ABS, Duolever, Paralever, Unilever – alles toll, alles prima. Doch wir erinnern uns: Die K 1200 R soll böse sein. Dazu braucht man bekanntlich ein böses Herz. Und genau das hat sie glücklicherweise, denn der quer eingebaute Reihenmotor ist tatsächlich ein toller Fiesling. Unter 3000 U/min rödelt er einigermaßen handzahm und unspektakulär. Im mittleren Drehzahlbereich grummelt er leicht unkultiviert und macht klar, daß er im Unterschied zu früheren BMW-Vierzylindern kein verkappter Auto-, sondern ein Motorradmotor ist. Um 6000 Touren herum gibt’s dann spürbare Vibrationen, die dem Fahrer unmißverständlich klar machen, daß er doch bitteschön noch kräftiger an der Kordel zu ziehen hat. Und dann passiert es: Bei 8000 U/min holt der Kurzhuber den Hammer raus und schlägt gnadenlos zu. Spätestens jetzt ist man über jeden Millimeter mehr Radstand heilfroh, denn nur so bleibt das Vorderrad am Boden. Selbst wenn die Tachonadel die 200er-Marke längst hinter sich gelassen hat, also beim Wechsel vom dritten in den vierten Gang, legt der Vierer immer noch mit einer rotzfrechen Lässigkeit zu. Wer jetzt anstelle des serienmäßigen Mini-Windschilds das etwas größere „Windschild Sport” (165 Euro) vor sich hat, sitzt sogar noch relativ windgeschützt. Bis knapp 11000 Touren kann man den Vierzylinder wunderbar durchladen, erfreulich, daß es im vierten bis sechsten Gang an der Getriebebetätigung nichts zu mäkeln gibt. Noch erfreulicher ist der Sound, den die BMW bei sportlicher Gangart hören läßt. Klingt der Motor im unteren und mittleren Drehzahlbereich noch ziemlich bieder, ist in den höheren Regionen das ganz große und böse Fauchen angesagt.
Doch so herrlich böse sich der wunderbar durchzugsstarke Motor auch benimmt, mit dem vom eingangs erwähnten BMW-Mitarbeiter gewünschten Image des fast unfahrbaren Monsters wird’s dann doch nichts. Dem macht das spurstabile, gut berechenbare und – welch häßliches Wort – gutmütige Fahrwerk einen dicken Strich durch die Rechnung. Wer den 163 PS gegenüber gesunden Respekt mitbringt, kommt mit der in Basisausstattung 13000 Euro teuren K 1200 R nach etwas Eingewöhnungszeit (erster bis dritter Gang, Bremskraftverstärker, Doppelscheinwerfer…) wunderbar klar. Es ist vielleicht traurig, aber man muß es so deutlich schreiben: Die K 1200 R ist locker fahrbar und absolut leicht zu beherrschen. Aber wenigstens hat sie einen herrlich bösen Motor. Und mit dem ist sie übrigens „das stärkste in Serie gebaute Naked Bike der Welt”.