aus Kradblatt 12/14
von Klaus Herder

 

Das ist kein Roller: BMW C 600 Sport

BMW-C600-SportDie Kaspertruppe der Lokführer-Gewerkschaft GDL ist schuld: Weil die dauermauligen Hilfs-Klassenkämpfer ihre gewerkschaftsinternen Kompetenzblähungen mal wieder im Rahmen einer munteren Wir-legen-den-Wochenend-Bahnverkehr-komplett-lahm-Aktion ausleben mussten, durfte ich zum Plan B greifen und den Individualverkehr bemühen, um von Stuttgart nach Kaufbeuren, von dort an die norddeutsche Westküste und dann wieder zurück ins Ländle zu kommen. Mal eben 2000 Kilometer in zweieinhalb Tagen – ein klarer Fall für den Mietwagen. Der dann dummerweise so kurzfristig nicht zu beschaffen war, was Plan C reifen ließ: Kollege Rainer. Der gute Mann kann eigentlich immer irgendein Schätzchen aus seinem gut sortierten und rasch wechselnden Fuhrpark entbehren. „Du kannst BMW fahren.“ Tja, Glück muss der Mensch haben: Ein trockenes und erstaunlich warmes Spätherbst-Wochenende auf einer 1200er-GS – was für Aussichten! „Wann brauchst du die GS zurück?“ „Welche GS? Ich rede vom BMW C 600 Sport!“

BMW-C600-SportEgal, in der Not fährt der Teufel Roller. Und Kollege Rainer findet zudem tröstende Worte: „Der ist gar nicht so langsam, geht nach Tacho 180. Und richtig bequem ist er auch.“ Ja, ja – er meint es ja nur gut. Eigentlich mag ich keine Roller, aber da an diesem Wochenende ohnehin die halbe Nation die Autobahn zuparken wird, ist mir mittlerweile fast jedes Gefährt recht. Hauptsache, ich komme irgendwie nach Hause. Also ran ans Gerät und ab dafür. Was sich als gar nicht so einfach herausstellt, denn das vollgetankt immerhin 252 Kilogramm schwere Moppelchen (eine 1200er-GS wiegt 14 Kilo weniger…) weigert sich beharrlich, seinen Tiefgaragenstellplatz im Rahmen meiner Rangierversuche zu verlassen. Parkbremse? Richtig getippt, doch dem richtigen Gedanken folgt leider nicht direkt die richtige Tat, denn irgendein passender Handhebel ist nirgends zu entdecken. Also erst einmal den Seitenständer einklappen und in Ruhe überl… – Bingo! Das war’s, der Seitenständer betätigt über einen Bowdenzug einen zweiten Bremssattel am Hinterrad und damit die Parkbremse. Clever gelöst, für übervorsichtige oder vergessliche Naturen, die gern mit ausgeklapptem Seitenständer rangieren aber etwas gewöhnungsbedürftig.

Cockpit-BMW-C600-SportAls nächste Herausforderung folgt das Aufsitzen, denn im Unterschied zum Motorrad bietet ein Roller grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Rollerprofis und ältere Herrschaften erledigen das über den mehr oder weniger tiefen Durchstieg; gelernte Motorradfahrer schwingen den Haxen grundsätzlich von hinten über die Sitzbank. Der BMW-Durchstieg ist rolleruntypisch recht hoch – irgendwo muss der gar nicht mal so kleine Motor ja abbleiben. Aus Bequemlichkeits-Gesichtspunkten ist es also relativ egal, wie man den immerhin 810 mm hohen Fahrersitz entert. Man sitzt nicht nur überraschend hoch, man hat als 1,85-Meter-Mann auch erstaunlich viel Platz. Von der Gedrängtheit manch anderer Roller-Arbeitsplätze hat der BMW rein gar nichts. Die Beine lassen sich prima und auch auf Dauer sehr bequem unterbringen, und der eher flach montierte Lenker sorgt oberkörpermäßig für eine erstaunlich vorderradorientierte Sitzposition, die nichts mit der Sanitärmöbel-Sitzhaltung auf den meisten anderen vollverschalten Kleinradler zu tun hat.

Der C 600-Arbeitsplatz hat nichts von Roller-Tristesse und erinnert eher an einen ausgewachsenen Tourer. Schalter und Armaturen kennt man von aktuellen BMW-Motorrädern, der große und übersichtliche Tacho zeigt gottlob analog an, und die Tankuhr mit ihrer Balkenanzeige gibt sehr präzise Auskunft darüber, wie viel Sprit noch im 16-Liter-Tank schwappt. Wenn die vier Liter Reserve angebrochen werden, informiert eine extra Anzeige darüber, wie viele Kilometer man mit dem Resttreibstoff schon zurückgelegt hat. Die Handhebel lassen sich fünffach verstellen, und die Spiegel sind zwar keine Offenbarung, machen aber einen ganz ordentlichen Job. Das Windschild lässt sich über zwei Stellschrauben manuell dreifach in der Höhe variieren; Abblend- und Fernlicht im BMW-typischen „Split Face“ liefern eine bessere Illumination als die meisten Motorrad-Scheinwerfer.

Rahmen-BMW-C600Also alles gut? Nö, denn die beiden Handschuhfachdeckel – der linke über die Zentralschließung verriegelbar – sind schon sehr billig gemacht. Und es geht noch billiger: Die im Durchstieg montierte und über besagtes Schloss zu öffnende Tankdeckel-Abdeckung ist so ziemlich das billigste und anfälligste Kunststoffteil, das mir an einem motorisierten Zweirad jemals untergekommen ist. Das Ding hält von zwölf bis Mittag und wäre bereits als Joghurtbecher-Deckel eine Zumutung. Ohnehin erinnert die Oberflächenhaptik manch unlackierter Kunststoffteile fatal an Baumarkt-Billigroller, und auch das Thema Spaltmaße geht der C 600 eher lässig an. Was nicht wirklich zur ansonsten grundsoliden Machart passt. Die Lackierung, wahlweise in Blau, Silber oder Schwarz, ist wirklich gut, und diverse Edelstahlteile – u. a. die Endschalldämpfer – erfreuen das Auge des Verarbeitungs-Gourmets.

Wenn man über Ausstattung und Verarbeitung redet, kommt man speziell bei BMW sehr schnell zum Thema Kaufpreis und Aufpreisliste. Bitteschön: Der C 600 Sport kostet inklusive serienmäßigem ABS 11200 Euro, in Worten: ELFTAUSENDZWEIHUNDERT. Richtig gelesen! Hubraum- und leistungsmäßig vergleichbare Motorräder gibt’s für rund 3000 Euro weniger. Wer den BMW noch etwas komfortabler machen möchte, bekommt für 900 Euro extra das „Highline Paket C 600 Sport“ und darf sich über LED-Tagfahrlicht, Heizgriffe und Sitzheizung (beides sehr empfehlenswert!) sowie sensorgesteuerte Reifendruckkontrolle und weiße LED-Blinkleuchten freuen. Soweit die (Preis-)Theorie. In der Praxis dürfte sich unter potenziellen Interessenten herumgesprochen haben, dass Listen- und Marktpreis nur selten deckungsgleich sind. BMW argumentiert bei seiner Preisgestaltung damit, dass der wichtigste Mitbewerber, nämlich der Yamaha TMax, in sehr ähnlichen Preisregionen angesiedelt ist und man als Premium-Anbieter ja nun wirklich nicht unterm Tarif der japanischen Massenware liegen dürfe. Klingt schlüssig, übersieht allerdings, dass in der Praxis niemand, wirklich NIEMAND mehr als 9500 Euro für einen nagelneuen TMax zahlen muss, wenn er sich nicht gerade extrem dämlich anstellt. Was zur Folge hat, dass auch der BMW-Dealer des Vertrauens sehr hässliche Preisgespräche führen muss, wenn es um den C 600 geht, und über zehn Mille die Verkaufsluft mächtig dünn wird.

Sozius-auf-BMW-C600-SportWie auch immer: Der deutsche Markt dürfte nicht das anvisierte Epizentrum für Großroller dieser Art sein. Zum Vergleich: Vom besagten Yamaha TMax konnte Yamaha hierzulande in 13 Jahren knapp 3000 Stück verkaufen, in Italien fanden im gleichen Zeitraum über 180.000 (!) Exemplare einen Käufer. Schon klar, welche Kundschaft auch BMW im Auge hat. Doch hier und heute geht es darum, mit einem deutschen Großroller auf große Deutschland-Tour zu gehen, und bereits auf den ersten Metern wächst bei mir die Erkenntnis: BMW kann keine Roller bauen! Wirklich nicht. Und deshalb haben die Bayern in Berlin ein echtes Motorrad auf 15-Zoll-Räder gestellt. Der C 600 Sport, dessen Modellbezeichnung etwas verwirrend ist, denn sein wassergekühlter Reihenzweizylinder verfügt über exakt 647 cm3 Hubraum, hat praktisch keine rollertypischen Nachteile. Vom etwas plärrigen, durchs stufenlose Getriebe systembedingten Sound und einer leichten Anfahrschwäche auf den ersten Metern einmal abgesehen.

Helmfach-BMW-C600-SportDie 60 PS des komplett neu entwickelten und hochmodernen Vierventilers treiben den Fünfzentner-Kracher tatsächlich in unter sieben Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 und danach auf echte 181 km/h. Und selbst bei diesem Tempo wackelt und rührt rein gar nichts. Querfugen, Längsfugen, Brückenabsätze – das ist dem C 600 alles so was von egal, die Fuhre bleibt immer und überall sauber auf Kurs. Ist halt ein verkleidetes Motorrad. Und das merkt man auch, wenn es auf kurvigem Geläuf mal etwas flotter zur Sache geht: Das Ding, das in keiner offiziellen BMW-Publikation Roller genannt wird, sondern immer als „Maxi-Scooter“ firmiert, ist erstaunlich handlich, bietet jede Menge Schräglagenfreiheit und lässt sich super zielgenau ums Eck zirkeln. Das Geheimnis des Erfolgs: Die Fahrwerksgeometrie entspricht solidem Motorrad-Standard: Radstand 1591 mm, Lenkkopfwinkel 64,6 Grad, Nachlauf 92 mm. Dazu eine solide Upside-down-Gabel, ein als mittragendes Element fest mit dem Stahl-Gitterrohrrahmen verschraubter Motor und eine konventionelle Einarmschwinge statt der ansonsten bei Rollern üblichen Triebsatzschwinge. Vorn und hinten jeweils 115 mm Federweg – fertig ist die Laube, sorry, das Motorrad, welches sich Maxi-Scooter nennt. Bevor wir es vergessen: Bremsen? Motorradmäßige 270er-Doppelscheiben im Vorderrad, fein dosierbare Doppelkolben-Schwimmsättel, sauber regelndes ABS – noch Fragen?

In ein paar Details unterscheidet sich das Ding dann aber doch vom klassischen Motorrad. Der Wind- und Wetterschutz ist fast so gut wie bei einem Roller. Und unter der auch für den Sozius saubequemen Sitzbank ist ordentlich Stauraum zu finden. Im Stand sogar noch etwas mehr, denn ein überm Hinterrad ausklappbarer Beutel aus einem extrem stabilen Material auf Kevlar-Basis („FlexCase“) verdoppelt den Kofferraum nahezu – darin finden dann auch zwei Inte­gralhelme Platz. Ein Sicherheitsschalter verhindert, dass mit ausgeklapptem Beutel gestartet werden kann. Wäre auch ziemlich hässlich, wenn beim ersten Einfedern zwischen Hinterrad und Hinterteil etwas stört, das da wirklich nicht hingehört.

BMW-C600-Sport-und-GTFür die rund 900 Kilometer von Kaufbeuren bis an die Nordseeküste habe ich mit dem C 600 Sport knapp acht Stunden gebraucht. Inklusive vier Tankstopps (bei Vollgas muss das Schätzchen alle 210 Kilometer an die Säule. Oder anders gesagt: Das Luder schluckt unter Last ganz ordentlich), diverser Mini-Staus und einer eher zähen Elbtunnel-Durchquerung. Mit einem konventionellen, gern auch 20 oder 30 PS stärkeren Motorrad wäre ich unter gleichen Bedingungen nicht schneller gewesen. Im Gegenteil, denn der Komfort wäre bei weitem nicht so gut gewesen. Zugegeben: Mit dem ICE hätte es noch komfortabler und wohl auch etwas schneller geklappt – wenn er denn gefahren und sogar pünktlich gewesen wäre. Der wesentliche Unterschied: Mit dem C 600 hat man jede Menge Fahrspaß. Natürlich ist das Ding völlig überteuert, aber die überraschten Gesichter von Autofahrern, die mit Richtgeschwindigkeit über die Bahn schnüren und dann urplötzlich von einem vermeintlichen Roller sehr, sehr zügig überholt werden, sind einfach Gold wert.

Wer es übrigens noch etwas komfortabler mag, bekommt beim BMW Händler für offiziell 11650 Euro den C 650 GT: gleiche technische Basis, aber noch bequemere Bank, höherer Lenker und elektrisch verstellbares Windschild sowie noch etwas mehr Komfort-Kleinkram. Das Ding sieht mal richtig schwülstig aus, wird aber wohl auch richtig gut funktionieren. Vielleicht bekomme ich in sehr absehbarer Zeit Gelegenheit dazu, dieses Schwestermodell zu fahren, denn während ich diese Zeilen in den PC hacke, läuft in den Nachrichten die Meldung, dass die Herren Lokführer mal wieder streiken werden. Ich muss wohl mal bei Rainer anrufen…