aus bma 06/07

von Uli Böckmann/Tourenfahrer
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift TOURENFAHRER

Cartoons: Jörg van Senden

Eine Pflichtangabe bei den technischen Daten von Motorrädern ist deren Gewicht – leer, voll, wie auch immer. Ist ja auch wichtig. Was aber ist mit dem Gewicht obendrauf?
Ich halte mit Siggi Ausschau nach einer Gebrauchten für ihn, er sucht als Wiedereinsteiger eine Enduro, die zum Reisen taugt. Wir schauen uns bei einem Händler um und stoßen im Showroom auf ein zweijähriges bayerisches Abenteuer, hochbeinig, raumgreifend. Geraume Zeit schon schleicht Siggi mit feuchter Netzhaut drumherum, als sein Blick plötzlich auf die Gewichtsangabe fällt: „Poach! Nää… gippet donnich! 256 Kilo trocken! So’n fettes Teil ist doch keine Enduro! Is‘ doch viel zu schwer!” Siggi steht kopfschüttelnd neben dem GS-Trumm, kann offensichtlich die Welt nicht mehr verstehen, und während sein Ochsenschädel hin und her wackelt, geraten die Speckringe seines Triplekinns in eine fließende, gegenläufige Pendelbewegung, wodurch ich sie zum ersten Mal als Ausgleichsgewicht verstehe. Schon fas- zinierend, wie die Natur das immer wieder einrichtet.
„Also erstens”, interveniere ich, „so wie du das Motorrad einsetzt, ist es doch wurscht, ob die jetzt 20 Kilo mehr oder weniger wiegt. Oder willst du damit ins Gelände?” „Ich? Bist du wahnsinnig?” „Also. Zweitens: Wenn du ohnehin nicht damit ins Gelände willst, warum guckst du dich dann nach einer Enduro um?” „Enduros sind geil.” Aha, also gleich das Totschlagargument. „Okay, halten wir fest: Enduros sind geil. Und nun?” „Vielleicht doch ’ne kleinere…”, sinniert Siggi und steuert zielstrebig auf die Einzylinder-Modelle zu. An einer Pegaso bleibt er hängen, ich höre wieder oft die Worte „poach”, „kumma hier” und „kumma da”. Scheint ihm zu gefallen, das Moped. „Wiecht auch bestimmt ’nen Zentner weniger”, höre ich ihn dann sagen, und im selben Moment hebt er eine der beiden Säulen, die ihm als Beine dienen, verdächtig an… er wird doch nicht… „Siggi!! Nix kaputt machen!” Mit einem hörbaren Seufzer – War das jetzt er? War es das Moped? – läßt er sich auf die Sitzbank hernieder, die unter ihm zu einem Solositz mutiert – einem ziemlich kleinen Solositz.
Biker Bears - Fettes DeutschlandSchon mal diese klassische Zirkusummer gesehen, bei der ein Kragenbär auf einem Minibike Achten fährt? Dieses Bild habe ich jetzt vor Augen – gegen Siggi ist Nikolai Walujew ein Hungerhaken. Ich krame reflexartig nach einem Stückchen Zucker: „Siggi, ich glaube, die is‘ nix für dich.” „Wieso? Fühlt sich aber gut an.” „Siggi, glaub‘ mir. Das ist zu wenig Motorrad für dich.” „Welches Motorrad?” höre ich da von schräg rechts hinten. Ein Verkäufer hat sich angeschlichen und will wohl wissen, was denn da in seinem Revier vorgeht. „Mein Freund sitzt gerade Probe.” „Tatsächlich? Worauf denn?” Nach genauerem Hinsehen dämmert es ihm dann: „Ach so, die Aprilia… ein sehr schönes Modell, auch der Zustand und alles… tiptop… wie bitte?… dochdoch, normalerweise hat das Motorrad einen Federweg… was? Zuladung?… nun ja, Ihr Gepäck sollten Sie vielleicht besser mit der Bahn … also ich denke, daß Ihr Freund damit richtig liegt, daß Ihre Statur…” „Ist mit meiner Statur irgendwas nicht in Ordnung!!?” Siggi verfügt in Sachen Körpergefühl etwa über die gleichen Fähigkeiten zur Selbsteinschätzung wie dieser ansonsten recht freundliche gallische Krieger, der selten ohne Hinkelstein anzutreffen ist.
Ich war schon in beratender Funktion anwesend, als Siggi sich vor kurzem eine neue Kombi gekauft hat. Als die Wahl dann endlich getroffen war und wir an der Kasse standen, fiel mein Blick auf das Größenschildchen: „8XL” war da zu lesen, wobei gerade in dieser Jacke doch Platz genug gewesen wäre, um diesen Wert einmal auszuschreiben, am besten in fett gesetzten Großbuchstaben. Denn wenn da XXXXXXXXL stehen würde – ein beeindruckender Wert – käme Siggi vielleicht tatsächlich ins Grübeln: „Hm… das sind ja ganz schön viele Xe, und alle ganz für mich alleine… hm… komisch, daß Manni nur zwei Xe hat und Herbert nur eins… hmm… dabei haben die doch in etwa die gleiche Figur wie ich, hmm…” Ich will nicht gänzlich ausschließen, daß er irgendwann drauf stoßen würde, woher die ganzen Xe kommen: „Vielleicht sollte ich beim Pizza-Service doch besser umschalten von Partyblech auf Maxi, … hmhm.” Aus dem Stoff, den man braucht, um für Siggi eine bequem sitzende Kombi zu nähen, könnte sich so mancher Mongole eine feine Reisejurte klöppeln. Wollte er eine Lederkombi ohne Naht, müßten erst die Rinder dafür gezüchtet werden. Mit diesen Lederbahnen könnte man dann allerdings auch ein Denkmal von Meat Loaf verhüllen.
Biker Bears - Fettes Deutschland Gut, Siggi mag ein Extrembeispiel sein, aber wer wollte mir widersprechen, würde ich behaupten, die Hälfte aller Motorradfahrer hierzulande sind zu fett. Na? Wer? Mir fällt auch sofort noch ein Kandidat ein, denn erst letzte Woche traf ich Schorsch (Typ gestauchter Kleinpykniker) bei unserem gemeinsamen Dealer. Wenn Schorsch auf seinem Bock sitzt, entspricht das von den Größenverhältnissen in etwa einem Golfball auf seinem „T”. Als ich ihn sah, war er gerade dabei, im Speed-Parts-Fachkatalog zu blättern, und er mußte schon all seine dicken Fingerchen zu Hilfe nehmen, um sich im Geiste zusammenzurechnen, um wie viele hundert Gramm er seine Suzi erleichtern kann, wenn er ihr weitere Carbonteile gönnt. Dabei könnte er in ganz anderen Dimensionen rechnen, ließe er sich einfach nur seine Brüste verkleinern.
Okay, okay – auch Schorsch ist ein Extrem, aber wieso fallen mir immer wieder solche Extreme ein? Vielleicht, weil es so viele gibt? Oder fallen die immer nur besonders auf? Ich machte eine kurze Internet-Recherche und war gespannt, ob ich zum Beispiel eine kleine, aber feine Ledermanufaktur finde, die sich auf dumbogleiche Übergrößen spezialisiert hat – und fand dutzende! Kann es sein, daß das mit dem Alter zu tun hat? Schließlich neigen manche Männer mit fortschreitender Reife zu schleichender Erschlaffung und setzen deshalb – wohl eine urgenetisch bedingte Fehlfunktion, zumindest aus heutiger Sicht – Fettreserven an (kleiner Einschub: Ich will mich an dieser Stelle allein mit den unerwünschten Energiereservoires des männlichen Geschlechts auseinandersetzen. Bei diesem Thema die holde Weiblichkeit außen vor zu lassen, gebietet allein die Contenance. Breiten wir darüber also das barmherzige Zelt des Schweigens…).
Wenn man sich umschaut, sitzen doch verhältnismäßig viele Kombis ziemlich „spack”, wie man im Ruhrgebiet sagt. Bisweilen bezweifelt man, daß Atmung wirklich noch möglich ist. Außerdem tut sich die Frage auf, warum Unsummen in Forschung und Entwicklung gesteckt und aufwendigste Konstruktionen ausgetüftelt werden, um den Schwerpunkt eines Motorrades so weit es nur eben geht nach unten zu verlagern, wenn dann in luftiger Höhe zwei bis drei Zentner Mensch den Höllenaufwand ad absurdum führen. Auf mancher Fuhre muß jedenfalls bei verhaltener Kurvenfahrt mit der latenten Gefahr gelebt werden, daß die Gravitation gegen die Kreisel- und Fliehkräfte unvermittelt einen leichten Sieg davontragen könnte.
Biker Bears - Fettes Deutschland Das kann und will ich mir nicht länger mit anschauen und möchte deshalb alle rein technischen Bemühungen der Konstrukteure im wahren Wortsinn überhöhen: Ich propagiere die Aktion NMDS!RMDGG! Nieder mit dem Schwerpunkt! Runter mit dem Gesamtgewicht! Blättern wir nun den Aktions-Katalog durch, so stellen wir zu unserem Entsetzen fest, daß darin keine Alu-Hüftpfannen feilgeboten werden, auch Carbonknie und Teflonschädel sucht man – so’n Mist – vergebens. Nicht mal ein Ti-tansteißbein ist im Angebot, Kunststoffschlüsselbeine – skandalös! – Fehlanzeige! Es hilft – leider, leider – nur eins, liebe Nichtschwimmer: Der Rettungsring muß weg. Und wenn’s sein muß, auch alle drei. Uff…
Man meint immer, Übergewicht sei vor allem ein Problem der Frauen. Wohl deshalb, weil die ständig drüber reden. Doch das täuscht in fataler Weise über die erschütternde Tatsache hinweg, daß zwei Drittel (das sind immerhin vier Sechstel!) aller Männer in Deutschland Übergewicht haben! Und wenn die das scheinbar auch nicht so sehr stört, so bleibt es doch eine weitere Tatsache: Übergewicht ist total ungesund, schweineteuer, macht überhaupt keinen Spaß, ist fahrphysikalisch ein Desaster und – mal ehrlich – … es sieht scheiße aus.
Denn da kann man machen, was man will: Wenn man zu fett ist, wird aus der topmodischen und am Katalog-Waschbrett-Model perfekt sitzenden Kombi vor dem Spiegel im Laden eine Karikatur, die einen schnell mal zum idealen Double für diese gigantische Bratwurst aus dem wunderbaren Renault-Werbespot macht – in ernsten Fällen kommt auch die Rolle des Sushi in Frage.
Und um den Nachwuchs scheint es nicht viel besser bestellt. Traurige 15 Prozent aller Kinder in Deutschland sind zu dick, wobei man da noch einmal sehr genau hinhören muß: Da ist von zu dick die Rede, nicht von dick. Dick sind nämlich noch viel mehr. Und das ist nicht nur dick, das ist auch doof für die Zukunft, denn am Ende machen dann vielleicht Motorräder wie die Boss Hoss wirklich noch Sinn. Die BMW 1900 GT als Sondermodell „Adipositas” mit extrabreiter Sitzpfanne und Unimog-Stoßdämpfern – auf der INTERMOT 2018 vielleicht keine Fiktion mehr? Das kann doch niemand ernsthaft wollen.
Deshalb freue ich mich über Vorschläge, welche speziellen Maßnahmen Teil dieser Aktion sein könnten. Vielleicht ein öffentliches Abnehmen: Public schmelzing. Oder eine Online-Community, die sich nach jedem abgenommenen Kilobyte bei Google Earth versammelt und symbolisch einen Cheeseburger vom Eiffelturm wirft? Mit guter PR findet sich möglicherweise ein Sponsor, der jeden in der Gruppe abgenommenen Doppelzentner in Ein-Euro-Stücken aufwiegt, zu wessen Gunsten auch immer (im Zweifel wüßte ich jemanden…).
Also denkt mal nach, liebe Motorrad-Möpse, wie wir das gemeinsam hinkriegen können. Vorregungen und Anschläge, also umgekehrt, bitte an den bma. Ich kenne da nämlich noch so’n feisten Typen, der wohl mitmachen würde. Den sehe ich auch noch jeden Tag, … so lange ich diesen ekligen Spiegel nicht abhänge.