aus bma 10/00

von Konstantin Winkler

In 30 Ländern konnte ich bislang Erfahrungen auf zwei und auch auf drei Rädern sammeln. Da wird es natürlich schwieriger und ist mit immer mehr Aufwand verbunden, soll noch ein weiteres Land hinzukommen. Seit nun in den neunziger Jahren in Osteuropa (teils friedlich, teils kriegerisch) etliche neue Staaten entstanden, ergeben sich jedoch wieder vielfältige Möglichkeiten. Eine Reise ins ehemalige Jugoslawien sollte es nun sein. Und zwar mit meiner fernreiseerprobten BMW R 80 GS, Baujahr 1991, die mich bislang auf Urlaubstouren vom Nordkap bis nach Gibraltar nie im Stich gelassen hat.
Sehr abwechslungs- und kontrastreich war die Anreise. Die kälteste Lufttemperatur hatte ich mit fast null Grad im Allgäu, die luftigste Höhe mit exakt 2236 Metern auf dem Passo Giau in den Dolomiten, die ergiebigsten Niederschläge kurz vor Venedig und den wärmsten Regen schließlich in Istrien. Besonders auf die letzten beiden Ereignisse hätte ich gut und gerne verzichten können.
Ich war jetzt also in Slowenien – oder Republika Slovenija, wie der Staat in der Landessprache heißt. Es ist der wirtschaftlich erfolgreichste junge Staat auf dem Balkan und auch politisch weitgehend stabil. Schon vor dem Bürgerkrieg galt diese Gegend als Vorzeigerepublik des sozialistischen Jugoslawien. Bis 1991 mussten die wirtschaftlich erfolgreichen Slowenen an Belgrad zahlen, jetzt arbeiten sie für ihr eigenes Land und suchen Anschluss ans westliche Europa. Auch von den Touristen wird es seit einigen Jahren langsam neu entdeckt. Trotzdem – bei Reisen nach Ex-Jugoslawien stellt sich immer die Frage: idyllisches Reiseland oder gefährliches Krisengebiet? Slowenien ist da völlig problemlos und hat auch landschaftlich viel zu bieten: das Mittelmeer und die Berge.

 

Die höchste Passstraße befindet sich im Dreiländereck mit Österreich und Italien. Zwar ist der Vrsic-Sattel nur 1611 Meter hoch, kann aber durch seine wilde Schönheit mit deutlich höheren der Alpen konkurrieren. Zwölf beeindruckende Kilometer bergauf und 24 nummerierte und gepflasterte Kehren (ähnlich der Nordrampe der Großglockner-Hochal- penstraße) erfreuen das Bikerherz zwischen Kranjska Gora und der Passhöhe.
Als nächstes Land stand Kroatien auf dem Reiseplan. 1992 wurde es als Republika Hrvatska (deshalb auch das Nationalitätskennzeichen HR) völkerrechtlich anerkannt. Seitdem wurde auch viel in den Tourismus investiert. Trotzdem – die Badegäste bleiben aus. Sehr viele haben auch heute noch Bedenken, in den ehemaligen jugoslawischen Vielvölkerstaat zu fahren. Und das, obwohl es hier wunderschön ist, es herrliche und zugleich wenig befahrene Straßen gibt und die Menschen freundlich sind.
Der westlichste Teil Kroatiens heißt Istrien. Zahlreiche Fischerorte mit wohlklingenden Namen wie Zelena Laguna, Porec, Rovinj oder Novigrad laden zu einem längeren Aufenthalt ein. Überall sieht man Schilder mit der Aufschrift „Sobe” an den Hauswänden, die auf Privatzimmer hinweisen. Diese sind zwar recht preisgünstig, dafür aber auch einfach und klein. Hotels mit drei oder vier Sternen bieten dagegen gewohnten westeuropäischen Standard – aber auch ein solches Preisniveau. Ich entschied mich für drei Sterne nebst einem überdachten und bewachten Parkplatz für die BMW.
Am Strand sieht man leider mehr unschöne Müllhaufen als Badetücher. Der einzige Badegast des Mittelmeeres war ich – trotz 18° Wasser- und 22° Lufttemperatur. Schon bald hatte ich genug von Gaumen- und Badefreuden. Es juckte mächtig im rechten Handgelenk. „Let’s go East” war fortan wieder die Devise.
Nach nur zehn Minuten Fahrt war ich mitten drin im istrischen Binnenland. Gleich hinter der Westküste befindet man sich nicht nur optisch in einer ganz anderen Welt. Unbezwingbaren Festungen gleich thronen kleine Dörfer auf Hügeln, in den Flußtälern befinden sich Weinberge und Äcker, und undurchdringliche Macchia wechselt sich mit dichten Wäldern ab. Die 50 PS des 800 ccm großen Zweiventil-Boxers waren da vollkommen ausreichend, und die 225 mm Federweg vorne sowie 180 mm hinten nötig auf den teilweise schlaglochübersäten Nebenstraßen.
Kurz hinter Lupoglav beginnt eine neue und gut zu befahrende Schnellstraße, die autobahnähnlich ausgebaut ist. Nach zehn Kilometern ein Schlagbaum – nein, keine Grenze, sondern der mautpflichtige, fünf Kilometer lange Ucka-Tunnel. Für sozialverträgliche 20 Kuna Gebühr (umgerechnet rund 5 DM) geht es nun durch das Ucka-Massiv, das eine natürliche Grenze zwischen der istrischen Halbinsel und dem Festland bildet. Dolomit- und Kalkstein prägen Aussehen und Vegetation dieses touristisch noch so gut wie unentdeckten Gebietes. In Istrien und im nördlichen Teil der Küstenstraße ist von den Ereignissen der vergangenen Jahre nichts mehr oder nur wenig zu spüren.
Eine neue, gut ausgebaute Autobahn führt quer durch Rijeka, der größten Hafenstadt Kroatiens. Um auf die Adria-Küstenstraße zu gelangen, muss man noch ein Stück durch die Stadt fahren. Der Weg führt vorbei an qualmenden Industrieanlagen und durch Hochhaus-Schluchten der Vororte, wie man sie schlimmer nicht hätte bauen können.
Hinter Kraljevica hatte ich den ersten phantastischen Blick auf Krk, die mit 400 Quadratkilometern größte Insel des Landes. Schroffe Felsen prägen das Bild. Es ging vorbei an Crikvenica, dem ältesten Ferienort Kroatiens (neben Dubrovnik) und Novi Vinodolski, eine Stadt in einem riesigen Weinanbaugebiet, wie der Name schon sagt. Das alles – einschließlich der Insel – gehört zur Kvarner Bucht, die dem Urlauber mildes Klima, üppiges Grün und nackte Felsen bietet.
Bis Senj befuhr ich die Jadranska Magistrala, die Küstenstraße. Norddalmatien war jetzt erreicht. Über 500 Kilometer waren es noch bis Dubrovnik, ich fuhr jedoch ins Landesinnere, und zwar über den 700 Meter hohen Vratnik-Pass. Eine imposante Burg aus dem 16. Jahrhundert, erbaut von den Uskoken auf ihrer Flucht vor den Türken, markiert die Passhöhe. Mein Weg führte durch Orte mit kaum aussprechbaren Namen wie Vrhovine oder Gornji Babin Potok. Alte Leute saßen vor ihren Häusern und verkauften Obst, Gemüse sowie selbst- gebrannten Schnaps, Kinder winkten mir freundlich zu. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein.
In Licko-Petrovo ist Kroatien zu Ende und mein 31. Land zum Greifen nahe. Der ADAC und auch das Auswärtige Amt raten zwar dringend ab von Reisen nach Bosnien-Herzegowina, doch meine Neugier war größer als meine Bedenken. Für die Einreise genügt inzwischen der Reisepass und die grüne Versicherungskarte. Ein Visum wird nicht mehr benötigt, es besteht aber eine Meldepflicht bei der nächsten Polizeibehörde binnen 24 Stunden nach der Einreise. Problemlos dann der Grenzübertritt: Ein genaues Studium des Passes von der ersten bis zur letzten Seite – das war’s. Beachtlich dagegen der LKW-Stau. Hier scheint es eine Dienstvorschrift zu geben, die besagt, dass die LKW-Schlange eine Mindestlänge von 500 Metern nicht unterschreiten darf. Ein paar hundert Meter weiter ein riesiges Schild in bunten Farben: „Bihac – Dobrodosli – Willkommen”. Doch der farbenfrohe Gruß kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dieses Land auf dem Balkan nach wie vor nicht für touristische Reisen eignet. Schlechter Straßenzustand, ungenügende Straßenmarkierungen und nicht zuletzt hohe Kriminalität mahnen zur Vorsicht. Lebensgefährlich ist es, die asphaltierten Wege zu verlassen. Das gesamte Grenzgebiet sowohl auf bosnischer als auch auf kroatischer Seite ist immer noch vermint. Überall stehen rote Warntafeln mit Totenkopf darauf und dem Wort „Mine” auf englisch und auf russisch.
Es war die Reise in eine andere Welt. Heruntergekommene und auch zerstörte Häuser, beinamputierte Kriegs- versehrte, verschleierte Frauen und Bauern mit Eselskarren auf der einen Seite, prächtige Moscheen und modisch gekleidete Frauen mit Handy auf der anderen Seite. Als ich mich zum Fotografieren einige Meter von meiner BMW entfernte, hielt gleich ein bosnisches Auto, und ein freundliches Ehepaar fragte auf deutsch, ob ich Hilfe benötige. Was mir auffiel und mich sehr wunderte: Sie hatten ihren Wagen von innen verriegelt.
Der Staat Bosnien-Herzegowina (Nationalitätskennzeichen BiH) setzt sich aus der Republika Srpska und der Muslimisch-Kroatischen Föderation zusammen. Die feindliche Haltung zwischen den Volksgruppen hält weiterhin an. Während die zwei Millionen Einwohner Sloweniens für ein Bruttosozialprodukt von 9840 US-Dollar pro Kopf sorgen, sind es bei den 4,8 Millionen Kroaten 4060 Dollar und bei den 2,3 Millionen Bosniern sogar nur weniger als 800 Dollar. Die erste größere Stadt, die ich besuchte, war Bihac – durch die schweren Kämpfe und Massenmorde zu Beginn der Jugoslawienkrise zu trauriger Berühmtheit gelangt. Als der Benzinvorrat zur Neige ging, hieß es erst eine Tankstelle suchen und dann anstellen. Meine bange Frage, ob ich auch mit DM bezahlen könnte, löste allgemeine Erheiterung aus. Was ich nicht wusste: In Bosnien ist die Deutsche Mark Leit- und Handelswährung. 1,20 DM kostete der Liter verbleites Superbenzin bei „Energopetrol”. Eine Stadtrundfahrt durch Bihac, ein kurzes Stück in Richtung Bosanski Petrovac und Sarajewo, das sollte es gewesen sein. Zu groß war das Unbehagen in dieser fremden Welt mitten in Europa, zumal auch SFOR-Truppen noch allgegenwärtig sind.
Ich fuhr zurück nach Kroatien. Zweimal wurde mein Reisepass wieder genauestens studiert. Ich befand mich jetzt unweit der weltberühmten Plitwitzer Seen. 1995 waren hier alle Straßen vermint. Auch jetzt standen überall noch Warnschilder neben der Straße. Und nach den aufregenden Erlebnissen und der beklemmenden Atmosphäre in Bosnien-Herzegowina konnte ich momentan überhaupt keine rechte Begeisterung für die Naturschönheiten entwickeln und wollte nur noch weg hier. Durch die Berge windet sich ein schmales Asphaltband. Abseits aller Touristenrouten liegt Zalusnica. Nicht mal hundert Kilometer von den Stränden des Mittelmeeres entfernt sind die Spuren des Krieges immer noch allgegenwärtig. Fassungslos fuhr ich durch das zerschossene, zerbombte und ausgebrannte Dorf. An jedem Haus waren die Einschusslöcher der Maschinegewehre noch zu sehen. Kaum einen Menschen sah man hier. Zum ersten Mal hatte ich Angst während einer Motorradtour innerhalb Europas.
Ängste ganz anderer Art bekam ich bei der anschließenden Rückfahrt ans Mittelmeer, als es plötzlich nicht nur sehr dunkel, sondern auch noch sehr feucht wurde. Mit Vorsicht zu genießen sind die kroatischen Straßen bei Nässe, lebensgefährlich bei Dunkelheit und Regen. Bei fast jedem zweiten entgegenkommenden Fahrzeug strahlte ein Scheinwerfer auf die Straße, der andere dagegen auf mein zerkratztes Visier. Dann war da noch ein undefinierbares Tier, das sich mit mir die Fahrspur teilen wollte, und ich sah mich zum Bremsen und Ausweichen genötigt. Fatalerweise gleichzeitig, was bei etwa 70 km/h das Heck ausbrechen ließ. Entweder die R 80 GS hatte ABS und ich wusste nichts davon, oder mein Schutzengel saß gerade im Hinterrad. Jedenfalls stabilisierte sich die Fuhre irgendwie und ein folgenschwerer Sturz konnte gerade eben vermieden werden. Rückblickend kann ich wohl froh sein, auch diese nicht alltägliche (und vor allem nicht ungefährliche) Motorradtour unbeschadet überstanden zu haben. Das Fotoalbum ist jetzt wieder um einiges dicker geworden und mein 32. Land wird gerade langsam aber sicher mit dem Finger auf der Landkarte umkreist.