aus bma 02/08

von Klaus Herder

Sturheit ist im Geschäftsleben eher selten von Vorteil. Ganz im Gegenteil. Daß mußte auch Ivano Beggio leidvoll erfahren. Der hatte vor ziemlich genau 40 Jahren die von seinem Vater 1946 gegründete Firma Aprilia übernommen und aus dem norditalienischen Fahrradhersteller eine Motorradmarke gemacht. Bis in die 90er Jahre tummelte sich Aprilia fast ausschließlich in den unteren Hubraumklassen.

Erst von der Pegaso und der RSV Mille baute Aprilia nennenswerte Stückzahlen größerer Kaliber. Doch der Einzylinder- und Supersportler-Markt war und ist verkaufsmäßig überschaubar, was Ivano Beggio aber nicht davon abhielt, die boomende Allrounder-Mittelklasse jahrelang völlig zu ignorieren. Was scherten ihn Bestseller wie Honda Hornet, Kawasaki Z 750 oder Yamaha Fazer? Aprilia hatte ein paar Schmuckstücke fürs Image und ansonsten viele, viele 50-Kubik-Roller fürs vermeintliche Kerngeschäft zu bieten. Die machten auch fleißig Stückzahl, doch die Erkenntnis, daß hoher Umsatz nicht zwangsläufig hohen Ertrag nach sich zieht, hätte sich eigentlich auch bis Noale in der Provinz Venedig herumsprechen können.

Doch irgendwann um die Jahrtausendwende herum stimmten auch die (Roller-)Stückzahlen nicht mehr, der Einbruch kleiner Roller auf dem italienischen Markt hatte Aprilia kalt erwischt. Ob in einer solchen Situation die Übernahme der Edelmarken/Dauerpatienten Moto Guzzi und Laverda ein sehr geschickter Schachzug war, läßt sich im Nachhinein natürlich oberschlau beantworten: Nein! Zielsicher am Markt vorbeigeplante Aprilia-Modelle wie Falco, Futura oder Caponord machten die Sache nicht einfacher.
Egal, passiert ist passiert, doch 2004 war man in Noale kurz davor, daß gar nichts mehr passierte. Der auf sympathische Art motorradverrückte Ivano Beggio hatte sich gewaltig übernommen. Weil kein Geld mehr da war, standen die Bänder im Frühjahr für sechs Wochen still. Doch Rettung nahte, wenn auch erst in allerletzter Minute: Der Piaggio-Konzern übernahm den ganzen Laden, und Beggio räumte den Chefsessel. Bereits im Frühjahr 2005 gab es von der neuen Firmenleitung den Startschuß zur Entwicklung einer komplett neuen, eigenen Viertaktmotoren-Palette, mit der man sich von ausländischen Zulieferern (z. B. Rotax aus Österreich) unabhängig machen wollte.

Die im Frühjahr 2007 vorgestellte Shiver ist der erste Vertreterin der neuen Generation, die in Markt der Volumenmodelle kräftig mitmischen soll. Das englische „Shiver” heißt übersetzt „Schauer” oder auch „frösteln, zittern”. Der Name ist für eine Aprilia nicht ganz neu, ein so benannter Prototyp war bereits 1995/96 auf den einschlägigen Motorradmessen zu sehen. Damals allerdings mit einem 1000er-Twin bestückt und im unsäglichen Stil des französischen Designers Philippe Starck, der vielleicht Küchenartikel toll gestalten kann, von Motorrädern aber wohl wenig Ahnung hat (was der grandiose „Erfolg” der Aprilia Moto 6.5 nachdrücklich bewiesen hat). Die Prototypen-Shiver jagte einem eher kalte Grusel-Schauer über den Rücken und ist zu Recht völlig vergessen. Außer dem Namen hat die Serien-Shiver mit ihr nichts gemein, und wer die schlanke Italienerin das erste Mal live sieht, ist womöglich schwer begeistert. Ihr Äußeres ist frisch und frech – und dennoch nicht ganz unbekannt, denn etwas MV Agusta hier, eine Prise Benelli dort und ein Schuß Suzuki B-King obendrauf (Auspuff!) ergeben einen munteren, durchaus eigenständigen Mix. Von der gepflegten Technokraten-Design-Langeweile mancher Mittelklasse-Motorräder aus japanischer Fertigung (Honda CBF, Suzuki Bandit etc.) ist die Shiver jedenfalls angenehm weit entfernt. Zumindest dürfte ihr Äußeres für klare Meinungen sorgen: Man findet sie entweder total schick oder total häßlich – dazwischen gibt’s eigentlich nichts.
Über die Gestaltung des Arbeitsplatzes sollte es dagegen keine zwei Meinungen geben. In moderaten 830 Millimetern Höhe thront der Fahrer sehr entspannt und relativ aufrecht hinterm breiten, konisch auslaufenden Alulenker. Die Fußrasten sind für Normalwüchsige goldrichtig montiert und ermöglichen mit lässigem Kniewinkel einen sauberen Knieschluß. Beide Handhebel sind verstellbar, die Spiegel zeigen tatsächlich das rückwärtige Geschehen, und das über einen Schalter am linken Lenkerende zu bedienende Digital-Mäusekino bietet zwölf verschiedene Anzeigen. Der Drehzahl wird glücklicherweise analog mitgeteilt, das dafür verantwortliche Instrument liegt genau dort, wo der suchende Blick zuerst landet. Die hydraulisch betätigte Kupplungsbedienung geht leicht und locker von der Hand, das Rühren im Sechsganggetriebe ist ebenfalls eine recht angenehme, weil leise und präzise Tätigkeit. Der Sozius-Platz ist deutlich bequemer, als er aussieht. Die Beifahrer-Fußrasten sitzen ausreichend tief, die stabilen Haltegriffe kommen in den Genuß einer serienmäßigen „Heizung” – die in unmittelbarer Nähe montierte Auspuff macht es möglich.
Doch alle Ergonomie-Begeisterung verblasst, wenn der Shiver-Motor das erste Mal Laut geben darf: Oha, welcher gehörlose Prüfer hat da wohl seinen Betriebserlaubnis-Segen gegeben? Danke Italien! Danke, daß es noch Menschen gibt, die kapiert haben, daß Motorrad fahren auch etwas mit Motorrad hören zu tun hat. Um es kurz zu machen: Die Shiver klingt geil! Und das total legal, denn das dumpfe Grollen, das mit zunehmender Drehzahl immer fauchiger wird, hat nichts mit prolligem Krawall zu tun. Das ist sehr, sehr gepflegter Sound, der sogar Omis zu Komplimenten verführt: „Die klingt aber gut, mein Junge.”
Was da so angenehm bollert, ist ein flüssigkeitsgekühlter V-Motor, dessen Zylinder sich im Aprilia-untypischen Winkel von 90 Grad spreizen. Das sorgt für optimalen Massenausgleich und macht eine Ausgleichswelle entbehrlich. Der ultrakurzhubige Vierventiler ist eine Aprilia-Konstruktion, wird aber vom Mutterkonzern Piaggio in Pontedera/Toskana gebaut. Der Antrieb der je zwei oben liegenden Nockenwellen erfolgt über Ketten und Zahnräder. Aprilia verspricht 95 PS bei 9000 U/min als Nennleistung und 79 Nm bei 7250 U/min als Drehmoment-Maximum. Mächtig stolz sind die Italiener auf die Art und Weise, wie die Einspritzanlage dazu bewegt wird, den 62 Kilo schweren Twin mit Sprit zu versorgen. O-Ton Prospekt: „Die Aprilia SL 750 Shiver verfügt als erstes Serien-Motorrad über die aus dem Rennsport stammende Ride-by-wire-Gassteuerung.” Nun ja, Gaszug-freie Drosselklappenbetätigung ist nicht so ganz neu, im Autobereich gibt’s das schon länger, und auch einige andere Motorradhersteller vertrauen seit geraumer Zeit auf ein System, das dem der Aprilia nicht unähnlich, meist allerdings nicht ganz so konsequent umgesetzt ist. Sinn und Zweck des ganzen Elektronik-Schnickschnacks ist jedenfalls, für eine weichere Gasannahme zu sorgen und dabei noch etwas Sprit zu sparen.

Die Sache funktioniert folgendermaßen: Zwei kurze Gaszüge laufen zu einem Sensor, der am Lenkkopf sitzt. Dort wandelt ein variabler elektrischer Widerstand (Potentiometer) die Drehbewegung des Gasgriffs in elektronische Signale für die Magneti-Marelli-Einspritzung um. Deren Management checkt blitzschnell unter anderem Drehzahl, Geschwindigkeit, Gang, Motortemperatur sowie Luftdruck. Der daraus errechnete Steuerbefehl sorgt dafür, daß die beiden Drosselklappen unterm Tank unabhängig voneinander von je einem Servomotor geöffnet und geschlossen werden. Wenn der Fahrer den Gasgriff zügig würgt, öffnen die Drosselklappen progressiv; bei langsamer Betätigung wird linear aufgemacht. Klingt kompliziert und ist es wohl auch. Funktioniert aber hervorragend, und der Begriff „Lastwechselreaktion” ist in Verbindung mit der Shiver ein Fremdwort. Als Shiver-Neuling hat man anfangs allerdings das Gefühl, daß die Gasbefehle in bestimmten Situationen mit minimaler Verzögerung umgesetzt werden, doch das gibt sich sehr schnell. Entweder, man gewöhnt sich dran, oder es ist eine reine Kopfsache. Egal, die Elektronik-Sache funktioniert.
Selbst bei niedrigsten Drehzahlen hängt der Motor perfekt am Gas. Da gibt es kein Ruckeln, kein Hacken, einfach nur herrlich weiche Gasannahme. Ab 2000 Touren ist der mit G-Kat bestückte Twin entspannt fahrbar. Ruckelfreie 60 km/h im sechsten Gang sind kein Problem. Ab 5000 U/min spannt er seine Muskeln und schiebt die mit 15 Litern vollgetankt 217 Kilo schwere Fuhre vehement voran. Erst jenseits von 8000 U/min ebbt die Leistung langsam ab. Wer es dann doch noch partout wissen will, läßt die Aprilia bei rund 9500 U/min sehr weich in den Drehzahlbegrenzer laufen. Dort wird nicht schnöde der Zündstrom abgestellt, das besagte Ride-by-wire-System nimmt stattdessen die Drosselklappenöffnung sacht zurück.
Die Italiener versprechen 210 km/h Höchstgeschwindigkeit, der Sprint von 0 auf 100 läßt sich unter Idealbedingungen in knapp unter vier Sekunden erledigen. In der Praxis wichtiger sind die Durchzugwerte, und auch die stimmen, der relativ kurzen Übersetzung und dem breiten nutzbaren Drehzahlband sei Dank. Die Shiver ist eine wunderbare Sprinterin, aber sie gibt einem nicht das Gefühl, ständig mit dem Messer zwischen den Zähnen unterwegs sein zu müssen. Wer in Cruising-Laune ist, wird von der 750er ebenfalls bestens bedient und mit Verbrauchswerten deutlich unter fünf Litern belohnt. Wer’s richtig fliegen läßt, fackelt zwischen 5,5 und 6,5 Liter ab. Normale, aber durchaus zügige Gangart kostet immer unter 5,5 Liter.

Der tolle Motor steckt als mittragendes Teil in einer sehr interessanten Rahmenkonstruktion. Das sehr gut verarbeitete Chassis ist eine geschraubte Kombination aus Gitterrohrrahmen und Alu-Gußteilen. Die Konstruktion ist eine perfekte Basis für den angestrebten Baukasten. Motor und Alu-Schwinge sind in den Alu-Seitenteilen gelagert; das darüber montierte Gitterrohrteil mit dem Lenkkopf kann einfach durch ein neues Teil mit komplett anderer Geometrien ersetzt werden. Was sich daraus machen läßt, war auf der Mailänder Messe Ende 2007 zu sehen: Die SMV 750 Dorsoduro, eine bildschöne Supermoto-Aprilia.
Zurück zur Shiver: Mit steilem Lenkkopfwinkel, tiefem Schwerpunkt, breitem Lenker und üppiger Schräglagenfreiheit ist sie die ideale Partnerin für verschärftes Kurvenräubern. Spielerisch handlich zirkelt die Shiver zielsicher um noch so enge Kurven. Ein leichter Lenkimpuls genügt, damit die Aprilia locker von einer Schräglage in die nächste fällt. Sie braucht nur eine minimal führende Hand, alles klappt unglaublich spielerisch und hat etwas von Einzylinder-Supermoto-Fahren. Neutral und absolut souverän geht es mit der Shiver ums Eck. Die nicht verstellbare Upside-down-Gabel von Showa und das in Federbasis sowie Zugstufendämpfung regelbare Sachs-Federbein sind eher straff abgestimmt und mittelprächtig sensibel. Auf einigermaßen pottebenem Belag gibt’s damit nichts zu meckern. Menschen, deren Haus- und Lieblingsstrecke unter unbehandelten Frostaufbrüchen leidet, sollten dann aber vielleicht doch den Zubehörmarkt nutzen. Die feinen Radialbremszangen haben die Shiver jederzeit sicher im Griff. Wer niemals den vorderen 120er- und den hinteren 180er-17-Zöller zum Blockieren bringen möchte, kann voraussichtlich ab Mitte 2008 ein ABS als Extra bekommen.
Unterm Strich ist die mit 7999 Euro (plus ca. 270 Euro Nebenkosten) sehr fair kalkulierte Aprilia SL 750 Shiver genau das, was die Mittelklasse gut gebrauchen kann: Ein sehr gut gemachter, toll funktionierender, herrlich klingender und überaus fahraktiver Hingucker. Und damit eine überlegenswerte Alternative zum vielleicht etwas drögen Vierzylinder-Einerlei.