aus bma 11/00

von Konstantin Winkler

Urlaub könnte so erholsam sein, wäre da nicht alle Jahre wieder die obligatorische Urlaubsreise. Und die Qual der Wahl zwischen hunderten von Ländern auf fünf Kontinenten. Aber was soll’s? Wir können ja schließlich unser sauer verdientes Geld nicht einfach an der Nordsee oder im Harz auf den Kopf hauen. Was denken dann die Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen von uns! Also ging es mit dem Motorrad im Herbst für eine Woche ans Mittelmeer. Unsere fernreiseerprobte BMW R 100 RS sollte uns sicher, zuverlässig und komfortabel bis in die monegassische Hauptstadt Monte Carlo tragen. Nach 700 monotonen Autobahnkilometern dann endlich kurvige Landstraßen im Schwarzwald. Und ein nettes Motorradtreffen, wo es als Krönung noch einen Pokal für die weiteste Anfahrt gab. Nach dem „Schwarzwaldrauschen” soll nun das „Alpenglühen” folgen. Doch dazu müssen wir erstmal in die Schweiz. Basel, Bern, Fribourg, die BMW reißt brav Kilometer um Kilometer ab und stellt wieder einmal mehr ihre uneingeschränkte Tourentauglichkeit unter Beweis. Wir erreichen Montreux und sind von der üppigen und teilweise mediterranen Vegetation beeindruckt. Durch die windgeschützte Lage am Ende des Genfer Sees hat man hier ein Stück Riviera im Süden der Schweiz. Hier liegt auch das Schloss Chillon aus dem 11. Jahrhundert, in einzigartiger Lage auf einer ufernahen Felseninsel, umrahmt von schneebedeckten Bergen.
Weiter geht es nach Martigny – ein Kulturzentrum von internationalem Ruf. Für einen Kulturbanausen wie mich noch lange kein Grund, den Zündschlüssel nach links zu drehen und den Motor abzustellen. Das Wetter ist herrlich – was will man mehr? Noch mehr Kurven und höhere Berge!
Wir sind jetzt im Kanton Wallis, bekannt für die höchsten Berge der Schweiz. Viele sind über 4000 Meter hoch, so auch der wohl berühmteste, das Matterhorn. Wir biegen jedoch in Martigny rechts in Richtung Italien ab und fahren durch das Tal der Drance, Val d’Entremont. Das Wetter wird schlechter. Die Hoffnung, trocken über den Großen St. Bernhard zu kommen, platzt wie die ersten Regentropfen an meinem Visier. Sicherheitshalber fahren wir durch den mautpflichtigen, 5,8 Kilometer langen Tunnel, der nicht unbedingt eine Alternative zur 2473 Meter hohen Passstraße ist. Es gibt keine ordentliche Belüftung, keine Gasmas- ken und auch kein Entrinnen – so in etwa muss die Luft in der Hölle für einen Nichtraucher schmecken. Also Augen zu und durch!

 

Hinter dem Tunnel ist das Wetter auch nicht viel besser. Trotz Regenkombi (ver)sammeln sich die ersten Tropfen Regenwasser in der Unterhose. Die Wolken hängen tief und vom höchsten Berg Europas, dem Mont Blanc, ist nichts zu sehen. Im Aosta-Tal ist es dann endlich warm und vor allem trocken. Das Thermometer zeigt 25 Grad an und Regenkombi sowie dicker Pullover können endlich wieder eingepackt werden. Wir sind jetzt im Land der Hupen und Pizzen: Italien. Ein Blick auf die Landkarte und in den leeren Magen, dann ist klar, wie es weitergeht: zum Pizza essen nach Turin.
Der erste Eindruck der piemontesischen Hauptstadt ist nicht gerade umwerfend. Schmutzige Fassaden künden von der staubigen Hitze langer Tage und Nächte. Praktisch pausenlos pulsiert hier das Leben. Eine Stadt, deren Herz im Takt der Otto- und Dieselmotoren schlägt. Öffentlicher Personennahverkehr scheint ein Fremdwort zu sein. Was die Pizza betrifft: in Hamburg gibt es bessere. Wesentlich besser schien den Ventilen der BMW das verbleite Superbenzin zu bekommen. Soll wohl auch so sein – bei den Preisen. Am frühen Nachmittag verlassen wir die Autometropole (Fiat wird hier gebaut). Der Verkehr wird dichter, die Gasstöße heftiger, und der Stop-and-Go-Verkehr malträtiert Kupplung und Nerven. Die Lichthupe ist hier kein partnerschaftliches Zeichen von gegenseitiger Verständigung, sondern aggressives Geflackere zum Freibrennen der Fahrspur. Es gibt aber auch erfreuliche Begegnungen der menschlichen Art. Ehemalige Gastarbeiter freuen sich über unseren Besuch und kommen zu einem kleinen Gespräch, um ihr verrostetes Deutsch zu üben.
Bei schönstem Wetter arbeiten wir uns über Susa weiter Richtung Süden vor. Über den 1850 Meter hohen und bis zu zwölf Prozent steilen Col de Montgenevre gelangen wir nach Frankreich und landen in Europas höchster Stadt: Briançon. Bis 1325 Meter über dem Meeresspiegel wohnt man hier. Jetzt geht es 20 Kilometer bergauf, eintausend Höhenmeter wollen überwunden werden. Eine einzigartige Bilderbuchlandschaft belohnt uns anschließend; wir fahren durch eine zerklüftete Wüste aus Felsen und Geröll. Diese Mondlandschaft befindet sich in 2360 Metern Höhe: der Col d’Izoard. Noch ein Pass und das Tagespensum ist geschafft: Col de Vars, 2109 Meter hoch.
Im provenzalisch anmutenden La-Condamine-Chàtelard endet die 13 1/2-stündige Fahrt nach 673 Tageskilometern. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum König der Pässe. 45 Kilometer lang genussvolles Öffnen und Schließen der beiden Gasschieber ist jetzt angesagt. Die 70 PS, die der 1000 ccm große Zweizylinder-Boxer leistet, sind ausreichend, selbst unter Ausnutzung des zulässigen Gesamtgewichtes von acht Zentnern. Lediglich in sehr scharfen Linkskurven kann mal die Doppelfanfare losgehen, weil sich Tankrucksack und Hupenknopf berühren. Der höchste Pass der Alpen hält sich die meiste Zeit bedeckt. Entweder mit Schnee oder mit Wolken. Neun Monate Wintersperre sind keine Seltenheit. Wir wollen das schöne Wetter ausnutzen. Die Vegetation wird immer karger – Moose und Krüppelkiefern haben längst die Bäume abgelöst. Unendlich viele Kurven, ebensoviele Schafe und die Ruinen ehemaliger Militärunterkünfte begleiten uns auf dem Weg nach oben. 2802 Meter hoch ist der Col de la Bonette. Doch es geht noch höher, wenn auch nur zu Fuß. Ein schmaler Weg führt zum Cime de la Bonette, 2860 Meter hoch. Das ist der Gipfel, im wahrsten Sinne des Wortes, der alpine Höhepunkt. Ein herrlicher Rundumblick und eine phantastische Aussicht auf die „Alpes de Haute Provence” belohnen uns für die Strapazen.
In dieser Unendlichkeit französischer Passstraßen muss ich dann das erste und einzige Mal die Sitzbank hochklappen und das gut sortierte Bordwerkzeug auf der Straße ausrollen. Benzin läuft am Getriebe runter, direkt auf den Krümmer. Der Schlauch, der durch das Luftfiltergehäuse führt, ist durchgescheuert. Zum Glück ist er lang genug und es reicht aus, links und rechts je einen Zentimeter abzuschneiden. Da hätte aus dem Alpensturm leicht ein Feuersturm werden können!
Mit sauberem Getriebe und schmutzigen Fingern geht es nun weiter. Auf dem weiteren Weg nach Süden durchqueren wir als nächstes das Tal der Tinée. St. Etienne-de-Tinée, der Hauptort, wird von einer mächtigen Kirche im lombardischen Stil überragt. Überhaupt zeigt der Ort schon deutlich mediterrane Züge. Es sind ja auch nur noch rund 80 Kilometer bis zum Mittelmeer. Wir befinden uns jetzt in den französischen Seealpen – „Les Alpes Maritimes”. Dort, wo die Alpen ans Meer stoßen, ist das Biken ein Hochgenuss. Doch dann der Kontrast: Von der Ruhe und Beschaulichkeit des südfranzösischen Hochgebirges hinab in die turbulente Glitzerwelt der Côte d’Azur.
Monte Carlo – die Hauptstadt des Fürstentums Monaco und zugleich Steuerparadies (echte Monegassen brauchen keine Steuern zahlen). Vornehme Geschäfte, frevelhafte Hotelpreise und prominente Leute; alle sind da: Neureiche, alter Adel, Regenbogen-Schickeria und deutsche Motorradfahrer (wir). Das Museum des Geldes – Casino genannt: unablässig werden hier die Francs in des Fürsten Kasse gepumpt. Hier ist den ganzen Tag was los. Etwas ruhiger ist da schon der Hafen. Schaukelnde Millionenjachten dümpeln im strahlendblauen Meer vor sich hin.
Wir verlassen das Reich des Fürsten. Europaweit gibt es wohl außer Mallorca und Ibiza keinen besseren Ort, um Geld und Ego schamloser vorzuführen. Es geht vorbei am Palais und den Villen hoch über Cap Ferrat, wo die Leute wohnen, die von der Erdkruste durch eine Schicht Geld getrennt sind.
Über die gebührenpflichtige Autobahn kommen wir nach Nizza. Hier ist der Verkehr jedoch genauso chaotisch wie in Monte Carlo und wir ziehen es vor, uns wieder in die Berge zu verdünnisieren. Nachdem wir uns durch den Großstadtverkehr gewurschtelt haben, gelangen wir über Plan-du-Var zu zwei Schluchten aus rotem Schiefergestein – Gorges du Daluis und Gorges du Cians. Sie geben uns das Gefühl, eher in Nordamerika als in Südfrankreich zu sein. Herrliche Kurven, kleine, aber stockfinstere Tunnels und immer wieder steil aufsteigende Felsen bestimmen das Bild, bis sich das Naturschauspiel urplötzlich wieder auflöst. Die Felswände werden flacher und helles Kalkgestein löst den unwirklich wirkenden roten Schiefer ab.
Wir befahren weiter die „Route des Grandes Alpes” und kommen über den 2327 Meter hohen Col de la Cayolle nach Barcelonette. Der in 1132 m Höhe gelegene Ort liegt im weiten Talbecken der Ubaye, umrahmt von hohen Bergen. Das Hotel ist mäßig, das Abendessen noch mäßiger und das Frühstück am nächsten Morgen spottet schließlich jeder Beschreibung – genau wie das Wetter.
Regen und Nebel begleiten uns auf dem Weg nach Briançon. Von den landschaftlichen und kulturellen Höhepunkten der „Route des Grandes Alpes” ist nicht viel zu sehen. Der 2058 m hohe Col du Lautaret ist schnellstraßenähnlich ausgebaut und unspektakulär zu fahren. Das ändert sich ein paar Kilometer weiter nördlich. Neuschnee und rutschige Straßen beschert uns der 2646 m hohe Col du Galibier. Wir erreichen St. Jean-de-Maurienne; der Schnee geht wieder in Regen über. Über Chambéry und Annecy geht es nach Genève – Genf.
Leider hat die Schweiz auch kein besseres Wetter zu bieten und wir lassen das Zentrum europäischen Geistes und internationaler Politik links liegen. Von Lausanne bis Basel geht es über die Autobahn – natürlich im strömenden Regen.
Als perfekt kann man den Wetterschutz der R 100 RS bezeichnen. Was BMW im Windkanal erprobte und dann 1976 als erste serienmäßige Vollverkleidung verkaufte, kann sich auch heute noch sehen lassen. Den Unbilden der Natur, sprich Wind und Wetter, ist man nur zu einem kleinen Teil ausgesetzt. Trotzdem, auch nach stundenlangen Regenfahrten mit einer RS ist es nicht mehr weit her mit der Motivation. Bis Karlsruhe sind wir im Regen gefahren, insgesamt 750 Kilometer. Dann wurde es nicht nur trocken, sondern auch dunkel. Durchnässt und genervt beschlossen wir, nach Hause zu fahren. 1424 Kilometer in 20 Stunden, das war meine bislang zweitlängste Mammut-Tour. Aber bestimmt nicht meine letzte.