aus bma 2/12 – Fahrbericht

von Klaus Herder

Husqvarna Nuda 900Wenn man das Glück (oder Pech?) hat, für einen schon seit Ewigkeiten existierenden Motorradhersteller zu ar­beiten, gibt es recht unterschiedliche Wege, das Thema Tradition anzugehen.

Man kann es zum Beispiel so machen, wie die weltweit älteste noch ununterbrochen produzierende Motorradmarke: Royal Enfield baut – zumindest gefühlt – seit 1901 immer noch und völlig selbstverständlich das gleiche Modell. Harley-Davidson als drittälteste noch nonstop aktive Motorradmarke stellt es prinzipiell ähnlich, aber doch etwas anders an. Die Amis beschwören bei jeder Gelegenheit ihre „Heritage“ und verkaufen durch den „Mythos“ Motorräder, vertrauen bei der Technik dann aber doch nicht aufs Gründungsjahr 1903. Ein 3-PS-Einzylinder im aufgemotzten Fahrradrahmen wäre heutzutage vermutlich auch etwas unterdimensioniert. Harley setzt mittlerweile lieber auf die Motorrad-Neuzeit.

Aufmerksamen Lesern dürfte nicht entgangen sein, dass in unserer kleinen historischen Abhandlung die Nummer zwei fehlt. Bitte schön: Der schwedische Waffen- und Haushaltsgerätehersteller Hus­qvarna brachte ebenfalls 1903 sein erstes eigenes Motorrad auf den Markt. Der 1,5-PS-Single kam allerdings drei Monate früher als die erste Harley-Davidson. Doch außer dem Gründungsjahr und der Grundkonstruktion des Urmodells gibt es praktisch keine Gemeinsamkeiten mit den US-amerikanischen Gralshütern der Mo­torrad­geschichte. Husqvarna vermarktete die eigene Firmenhistorie bislang komplett anders: nämlich praktisch gar nicht. Fragen Sie mal einen vermeintlichen Motorradkenner, was ihm zum Thema „klassische Husqvarnas“ einfällt. Er wird sich bestenfalls daran erinnern, dass Husqvarna in den 60er und 70er Jahren DIE Marke für Grobstoller war und dass der „King of Cool“ Steve McQueen damit über losen Untergrund tobte. Die absoluten Profis wissen wo­möglich noch, dass in den 30er Jahren eine 500er-Husqvarna mit V2-Viertakmotor bei Straßenrennen den eigentlich übermächtigen Nortons ab und an den Siegerpokal wegschnappte. Doch das ändert nichts daran, dass im kollektiven Markenbewusstsein Husqvarna für En­duro- und Motocrossmaschinen sowie bestenfalls noch für Supermotos steht. Wenn überhaupt…

Husqvarna Nuda 900Die Firmengeschichte der letzten knapp 25 Jahre mit diversen Eigentümer-Wechseln mag der Grund dafür sein, dass Husqvarnas durchaus erfolgreiche Vorkriegs-Historie bislang marketingtechnisch recht stiefmütterlich behandelt wurde – man hatte vermutlich ganz einfach andere Sorgen. 1986 wurde das urschwedische Fabrikat von der italienischen Cagiva-Group übernommen, ab 1988 produzierte Husqvarna im norditalienischen Varese. Ab 1996 gehörten Cagiva und Husqvarna zur MV Agusta-Gruppe, bei der die Eigentümerverhältnisse traditionell einem steten Wechsel unterworfen waren. Im Herbst 2007 übernahm dann BMW für 93 Millionen Euro Husqvarna von MV Agusta und betreibt die Marke seitdem als eigenständiges Unternehmen weiter. Was für BMW den Vorteil hat, dass man die eher halbherzigen, mäßig erfolgreichen Versuche mit eigenen Hardcore-Offroadern (G 450 X) ad acta legen konnte und eine Marke mit frischem, frechem, jugendlichem Sport-Image als neues Familienmitglied dazubekam.

Das von Husqvarna bislang bespielte Sportsegment macht allerdings nur rund zehn Prozent des Motorrad-Gesamtmarktes aus. Verständlich also, dass sich die BMW-Kaufleute nach einem Husqvarna-Zubrot umschauten, um zukünftig noch etwas mehr Bares in die Münchner Kassen zu bekommen. Zusammen mit den Marketing-Profis und den Technik-Verantwortlichen wurde schwer gehirnt und heraus kamen zwei wegweisende Erkenntnisse. Erstens: Zum geplanten Marken-Image (und auch im Hinblick auf besagte Historie) passt durchaus ein Nicht-Wettbewerbs-Straßenmotorrad. Zweitens: BMW hat einen brillant sortierten Motorradteile-Baukasten, aus dem sich Husqvarna kostengünstig bedienen kann.

Husqvarna Nuda 900Was die Ingenieure in Varese, von denen einige aus BMWs ehemaligem Formel 1-Team stammen, auch reichlich taten. So landete der Motor der F 800 R auf dem OP-Tisch. Nicht, dass der Rotax-Parallel-Twin in BMW-Verpackung bislang unangenehm aufgefallen wäre. Ganz im Gegenteil: Der Reihenzweier sorgt für gute Fahrleistungen sowie geringen Verbrauch, ist durchzugsstark und hängt toll am Gas. Doch als Husqvarna-Treibsatz durfte der flüssigkeitsgekühlte Motor dann doch noch etwas pfiffiger und munterer daherkommen.

Gedacht, geschraubt: Den ganz wesentlichen Unterschied macht ein cleverer Technik-Kniff – der Versatz der Hubzapfen der Kurbelwelle um 45 Grad. Der sorgt dafür, dass die beiden Kolben ihren Arbeitsweg nun nicht mehr parallel bewältigen, sondern versetzt auf und ab jagen. Was von außen immer noch nach Reihentwin aussieht, hat nun den Charakter eines V-Motors. Und klingt vor allem auch so. Statt eines dezenten F 800-Pröttelns gibt‘s nun ein kerniges, recht bassiges V-Twin-Bollern. Das klingt etwas nach Ducati und mit seinem unrhythmischen Pulsschlag deutlich mehr nach Harley. Wer schon mal eine mit Zubehör-Auspuff bestückte H-D XR 1200 gehört hat, mag eine etwas genauere Vorstellung davon haben, wie herrlich das tönt.

Doch beim Kurbelwellen-Trick ließen es die Techniker nicht bewenden. Wo man gerade so dabei war, bekam der Twin noch eine größere Bohrung (84 statt 82 mm) und auch mehr Hub (81 statt 75,6 mm) spendiert. Die neuen Kolben und Pleuel haben nun mit 898 cm³ zu tun, also mit exakt 100 cm³ mehr als bei der F 800 R. Das dem Massenausgleich und damit der Vibrationsminderung dienende Schwenkpleuel blieb erhalten, es musste nur der neuen Kurbelwelle angepasst werden.

Mehr Sound, mehr Hubraum – wie sieht‘s mit mehr Leistung aus? Sehr gut, denn neben den erwähnten Maßnahmen sorgen auch noch größere Ventile samt geweiteter Atemwege, geänderte Nockenwellen mit schärferen Steuerzeiten, eine von 12 auf 13 erhöhte Verdichtung und noch etwas Feinarbeit dafür, dass der Twin mit 105 PS bei 8500/min und maximal 100 Nm bei 7000/min ziemlich gut im Futter steht. Zum Vergleich: Die auch nicht gerade als Schlappwurst geltende BMW F 800 R leistet maximal 87 PS bei 8000/min und stemmt 86 Nm bei 6000/min. Damit auch jeder auf Anhieb sieht, dass hier kein naturbelassener BMW-Motor werkelt, buhlt der Husky-Zylinderkopf im markentypischen Rot um Aufmerksamkeit.

Husqvarna Nuda 900Ähnlich wie beim Motor verfuhren die Husqvarna-Macher mit dem Fahrwerk. Also eine solide Basis aus dem BMW-Baukasten abgreifen und diese dann munter überarbeiten. Besagte Basis bildet der stählerne Gitterrohrrahmen der BMW F 800 GS samt dazugehöriger Alu-Zweiarmschwinge mit ihren soliden Kettenspannern. Die Italiener kürzten den Rahmen um 50 mm, reduzierten im Hinblick auf mehr Handlichkeit den Lenkkopfwinkel ein wenig und verpassten der ganzen Sache ein steiferes 80-mm-Steuerkopfrohr. Die 17-Zoll-Räder mit ihrer klassenüblichen 120/180er-Besohlung sind ebenfalls eine BMW-Spende, die aber offensichtlich unangetastet blieb und so praktische Dinge wie in die Speichen eingeschraubten Ventile mit sich bringt. Als Federelemente kommen in der Basis-Version Sachs-Bauteile zum Einsatz. Die 48er-Upside-down-Gabel lässt sich nicht verstellen, beim Zentralfederbein können immerhin Federbasis und Zugstufendämpfung variiert werden. Vorn stehen üppige 210 mm Federweg zur Verfügung, an der Hinterhand sind es deren 180.

Munterer Motor, solides Fahrwerk – alles schön und gut, doch das was beim Betrachter zu Reaktionen wie „Die muss ich sofort fahren!“ oder auch „Die kommt mir niemals unter den Hintern!“ führt – dazwischen gibt es eigentlich nichts – ist nicht die nette Technik, es ist natürlich die absolut polarisierende Verpackung. Die italienischen Designer hatten die reizvolle Aufgabe, ein ziemlich unverkleidetes Motorrad lecker einzukleiden und dabei trotzdem sehr nackt aussehen zu lassen. Das dürfte ihnen gelungen sein, denn wie bei einer Frau im „Kleinen Schwarzen“ (zugegeben, ein echt mieses Klischee, aber die Verlockung war an dieser Stelle einfach zu groß…) kann das Urteil „total erotisch“, aber auch „absolut ordinär“ lauten. Knapper, taillierter und provozierender lässt sich ein nacktes Motorrad kaum gestalten. Da war es nur konsequent, dem Hingucker – abweichend von der bei Husqvarna bislang üblichen, sehr techniklastigen Namensgebung – eine emotionale Modellbezeichnung zu verpassen: Nuda – „Die Nackte“. Lässt sich die Sache besser auf den Punkt bringen?

Husqvarna Nuda 900 mit SoziusSollte man zur Nuda-fahren-wollen-Fraktion gehören, wird der erste Körperkontakt mit einem gewaltigen Wohlfühl-Bonus belohnt. 885 mm Sitzhöhe sind zwar eine ausgesprochen luftige Ansage, doch Höhenangst ist völlig unangebracht. Die dünn und ziemlich straff gepolsterte Sitzbank ist nämlich recht schmal geschnitten, die Schrittbogenlänge (ein wunderbarer, von BMW eingeführter Begriff) fällt damit nicht übertrieben groß aus, womit auch normalwüchsige Fahrer mit beiden Beinen am Boden bleiben können. Die Nuda wirkt insgesamt sogar eher klein und knuffig, die Sitzposition ist Supermoto-mäßig aktiv. Der Fahrer hat viel Platz hinterm breiten Lenker. Die Tankattrappe (der eigentliche Spritbehälter bunkert seine 13 Liter überwiegend unterm Sitz) ist schön schmal, es bleibt viel Platz zum Turnen. Und auch für die Entspannung, denn der Kniewinkel fällt überraschend relaxed aus. Vollgetankt und fahrfertig bringt die Nuda 198 kg auf die Waage. Die treffen auf besagte 105 PS – das müsste passen. Tut es auch. Und wie! Mit perfekter Gasannahme legt der Pseudo-V2 bereits ab unter 2000/min extrem kräftig und noch deutlich durchzugsstärker als die F 800 R los. Kein Kettenpeitschen, kein Ruckeln, null Lastwechselschläge – der famose Twin zieht einfach nur sauber durch. Und packt bei 5000/min den ganz großen Hammer aus, um dann bis rund 9000 Touren äußerst munter und ohne irgendeinen Durchhänger weiterzumachen. Das Steppen im Sechsganggetriebe geht manchmal etwas knochig, dabei aber immer exakt und auf kurzen Wegen vom Fuß. Von 0 auf 100 km/h benötigt die Nuda gerade mal 3,3 Sekunden, bis Tempo 140 vergehen insgesamt nur 5,5 Sekunden – damit lässt die Husky manches Einliter-Superbike recht alt aussehen. Eine Yamaha FZ1 beispielsweise – immerhin 150 PS stark – hat gegen die Nuda in Sachen Durchzug nicht den Hauch einer Chance. Welch ein genialer Motor! Husqvarna verspricht für die Nuda eine Spitze von 225 km/h, die für eine Nackte natürlich eher ein theoretischer Wert bleiben werden, doch zu wissen, zu was die Fuhre fähig wäre, ist ja auch nicht so schlecht. Motor-Elektronik und Einspritz-Mimik bieten übrigens auch ein „Regen-Mapping“, das die Leistung etwas zurücknimmt und für noch sanfteres Ansprechen sorgen soll. Kurzurteil: überflüssig, denn die Abstimmung des Zweizylinders ist auch ohne zusätzlichen Elektronik-Schnick­schnack für jede Fahrsituation perfekt gelungen.

Husqvarna Nuda 900 in VollaustattungFaszinierend ist aber nicht nur die Elastizität des Nuda-Twins, der Motor überzeugt ganz nebenbei auch noch mit toller Laufkultur. Was dabei am meisten überrascht: Der Zweizylinder vibriert dabei gefühlt deutlich weniger als der in Sachen Massenausgleich theoretisch besser aufgestellte F 800-Motor. Die Husky pulsiert angenehm, während die BMW – besonders im oberen Drehzahlbereich – eher etwas unangenehm rüttelt. Woran das liegen mag, kann dem Husqvarna-Fahrer egal sein. Er fühlt sich auf seinem Feuerzeug einfach nur sauwohl. Einen gehörigen Anteil daran hat auch das gelungene Fahrwerk. Supermoto-Sitzposition und -Verpackung sollten aber in Sachen Handlichkeit keinen falschen Eindruck erwecken: Die Nuda ist kein super handlicher, womöglich super nervöser Wetzhobel. Sie ein sehr gut ausbalanciertes, gutmütiges, also auch ohne Wettbewerbs-Ambitionen leicht zu beherrschendes unverkleidetes Motorrad. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für schnelle Richtungswechsel verlangt die Husky vor allem bei höheren Tempo nach einer klaren Ansage durch den Fahrer. Aktive Arbeit am Lenker, spürbarer Schenkeldruck und gern auch etwas Gewichtsverlagerung sind dann angesagt, damit es wirklich flott ums Eck gehen kann. Diese Auslegung hat den unbestreitbaren Vorteil, dass die Nuda immer absolut berechenbar bleibt. Die Nackte mag eine gnadenlose Poserin sein, eine Zicke ist sie deshalb aber noch lange nicht. Domina-Allüren sind ihr auch weitgehend fremd. Die langhubigen Federelemente machen die Husky auf normalwelligem Belag zum Bügeleisen, eine gewisse Härte zeigt sie nur dann, wenn fiese kurze Stöße weggesteckt werden müssen. Unterm Strich geht die Abstimmung als „sportlich-komfortabel“ und damit als recht gelungen durch.

Husqvarna Nuda 900 WheelieGelungen ist auch die Bremsanlage. Die Brembos packen vehement und dabei hervorragend dosierbar zu. Für alltagstaugliche und ABS-lose Stopper leisten die Vierkolben-Festsättel an den vorderen 320-mm-Scheiben referenzverdächtige Arbeit. Haben Sie es gelesen: ABS-los! Tja, genau das dürfte der Nuda im laufenden Jahr noch ein paar potenzielle Kunden kosten, denn Husqvarna mag zwar zum ABS-Vorreiter BMW gehören, was aber nichts daran ändert, dass das Nuda-Modelljahr 2012 nur ohne Blockierverhinderer lieferbar ist. Das mag ärgerlich sein, ein Skandal ist es deshalb noch lange nicht, schließlich haben Generationen von Motorradfahrern auch ohne ABS überlebt. Und außerdem ist Besserung in Sicht. Ab Modelljahr 2013, also ab Herbst 2012, ist das vermeintliche Bremsen-Allheilmittel auch für die Nuda lieferbar. Der Platz fürs ABS-Steuergerät ist vor der Airbox bereits vorhanden.

Die ausschließlich in Schwarz lieferbare Nuda 900 kostet 9990 Euro (plus 300 Euro Nebenkosten), und sie hat eine noch etwas mehr aufgebrezelte Schwester: die Nuda 900 R, die auf den ersten Blick am roten Kleidchen zu erkennen ist. Für 1600 Euro mehr gibt‘s bei ihr eine voll einstellbare Sachs-Gabel, ein knallgelbes und ebenfalls straffer abgestimmtes Öhlins-Federbein mit Höhenverstellung, eine flachere und stufenfreie Sitzbank, eine etwas kürzere Endübersetzung sowie eine hübsche Karbon-Endkappe für den Lafranconi-Schalldämpfer. Und es gibt vor allem Monobloc-Brembos, die sich von dem geschraubten Brembos der Basis-Nuda durch extreme Bissigkeit unterscheiden. Für Supermoto-Cracks mag das eine feine Sache sein, für Otto Normalmotorradfahrer und den Alltagsbetrieb sind die Dinger eindeutig zu heftig. Was übrigens weniger mit den Zangen an sich, sondern mit unterschiedlichen Bremsbelägen zu tun hat. Das Husqvarna-Zubehörprogramm bietet aber ggf. Alternativen. Wer allerdings nicht unbedingt das Dicke-Hose-Image der Top-Version benötigt, fährt mit der Basis-Nuda abseits der Rennstrecke genauso gut – und spart nebenbei besagte 1600 Euro.

Die lassen sich zum Beispiel prima in einen gut abgerockten Husqvarna-Crosser investieren. Da hätte man dann etwas für einsame Schrauber-Abende und fürs Wochenend-Vergnügen in der Kiesgrube. Und man hätte ein Stück Husqvarna-Historie, eine prima Ergänzung zur Nuda, die sehr eindrucksvoll beweist, dass Husqvarna auch Straße kann. Und das eigentlich schon immer, man muss halt nur etwas in der Geschichte wühlen.